Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
junge Frau gern studiert, die finanzielle Lage ihrer Eltern ließ das allerdings nicht zu. Aber der Gedanke daran ist in ihr wachgeblieben, und so war sie immer fest entschlossen, wenigstens ihren Kindern diese Möglichkeit zu geben.
In seinem Sprinter hatte mein Vater sich aufs Unterwegssein eingerichtet. Er hatte ein Autotelefon dabei, zudem das Nötigste für die Arbeit und den Alltag: Kaffeekanne, Vesperdose, Salz, eine Wasserflasche, ein paar Musikkassetten, Gartenschere und Schraubenzieher, Notizblock, Handreiniger und Taschenlampe. Und stets eine Packung Paracetamol, um Fieber wegzudrücken oder wenn mal wieder, und das geschah immer häufiger, die Bandscheiben schmerzten. Auf der Kühlerhaube prangte zweifach der Schriftzug «Simsek Blumen», von rechts wie von links lief er nach vorne auf den Mercedesstern zu. Der Sprinter reichte bald nicht mehr aus. Mein Vater kaufte einen Mercedes 817 L; einen Siebeneinhalbtonner, ausgestattet mit Stahlregalen und Kühlanlage, finanziert durch einen Bankkredit. Auch die Schrift wurde größer. «Simsek Blumen Groß- und Einzelhandel» stand da nun auf der Plane. Den Straßenhandel weitete er entsprechend aus. Aus einem Standort wurden zwei und später vier. Mein Vater stellte Leute ein, baute sich einen Mitarbeiterstamm auf: Blumenbinder, Verkäufer, die seine Stände betreuten, Helfer, die ihn auf den Hollandfahrten begleiteten, damit er unterwegs auf dem Beifahrersitz ein paar Stunden schlafen konnte. Er überredete vor allem Landsleute, bei ihm zu arbeiten. Sie sollten nicht zu Hause oder im Café sitzen, sondern etwas tun. Geld zu verdienen sei doch besser, als Geld auszugeben.
Dass er sich vor allem mit türkischen Mitarbeitern umgab, hatte zwei Gründe. Zum einen waren darunter viele Verwandte oder Bekannte, die er unterstützen, denen er Perspektiven eröffnen wollte. Zum anderen vertraute er ihnen einfach, denn viele Türken in Schlüchtern stammten aus der Gegend von Salur. Es gab keine schriftlichen Übereinkünfte oder Verträge, oft noch nicht einmal konkrete mündliche Abmachungen. Mein Vater bezahlte so viel, wie es das Tagesgeschäft hergab und ihren Leistungen entsprach, und er bezahlte immer bar – genau wie auch diejenigen, die bei ihm Sträuße einkauften, ihn bar bezahlten. Woche für Woche holte er in Naaldwijk Blumen für sechstausend, achttausend Mark, vor Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern auch mal für dreißigtausend Mark, und einmal, vor einem Muttertag, brach er gar mit fünfzigtausend Mark in bar nach Holland auf – er hatte vor der Fahrt eigens einen Kredit aufgenommen und sich bei Verwandten Geld geliehen. Und nach seiner Rückkehr banden er und an die dreißig Mitarbeiter, Verwandte, Bekannte und Aushilfen gut zwanzigtausend Sträuße, mit denen dann all die Händler beliefert wurden, die mittlerweile bei ihm einkauften. In solchen Wochen machte er sechsstellige Umsätze. An einem guten, warmen Sommertag nahm er an seinem Standplatz in Nürnberg rund zweitausend Mark ein, an einem besonderen Tag wie Muttertag konnten es auch achttausend sein.
Es ging der Firma gut, es ging unserer Familie gut, aber auch den Angestellten. Die Blumenbinderinnen lobten das gute Betriebsklima, der Hausmeister empfand meinen Vater als freundlichen und umgänglichen Menschen, seine holländischen Geschäftspartner von der Blumenbörse schätzten, dass er viel, schnell und verlässlich arbeitete, Lieferanten wie Belieferte erlebten ihn als entschlossenen, aber fairen Verhandlungspartner. Er bezahlte pünktlich die Miete, er bediente zuverlässig seine Schulden bei der Bank. Mein Vater war innerhalb von wenigen Jahren vom Bandarbeiter zu einem geschätzten, erfolgreichen Geschäftsmann geworden.
Je mehr sein Betrieb wuchs, desto rücksichtsloser beutete er sich selbst aus. Nur am Montag begann sein Arbeitstag etwas später, da tankte er Kraft und Konzentration für die Reise nach Holland, die am Wochenbeginn anstand. Er sah sich in Ruhe die Buchhaltung an, schaute im Lager nach dem Rechten, packte den Lkw und machte sich reisefertig. Gegen neun Uhr abends fuhr er dann los, die Nacht hindurch auf der A45 nach Nordwesten, über Frankfurt, Dortmund und die holländische Grenze, vorbei an Arnheim und Utrecht, bis hinter Rotterdam dann Naaldwijk an der Nordsee erreicht war. Manchmal war weniger Verkehr, und es ging schneller, dann blieb ihm noch Zeit, um auf einem Rastplatz ein bisschen zu schlafen, bevor er pünktlich um sechs Uhr morgens die Auktionshalle
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