Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
zur Familie gehörte.
Ich erinnere mich gut an den letzten gemeinsamen Urlaub in Salur, das war 1999. Einen Abend sehe ich noch ganz klar vor mir. Meine Mutter und mein Bruder schliefen schon. Mein Vater hatte die Obstbäume im Garten gegossen, dann ein paar Kirschen und Pfirsiche gepflückt und sich auf den Balkon gesetzt. Ich war schon auf meinem Zimmer gewesen, es war elf oder zwölf Uhr nachts, vielleicht später, aber ich war noch wach und bin noch mal raus, ich weiß nicht mehr, warum. Jedenfalls sah ich Vaters Silhouette im Dunkeln und setzte mich zu ihm. Ich fragte ihn, warum er nicht im Bett ist, ob er nicht schlafen kann, ob ihn irgendwas beschäftigt oder bedrückt. Nein, sagte er und deutete auf den Lichtschein in der Ferne, auf das Feuer, das aus dem Dunkel der Berge leuchtete. Und er hat mir erklärt, dass die Hirten in dieser Nacht Feuer machen und miteinander essen. Dass sie danach wieder ins Tal kommen. Er wartete auf die Schafe, wie früher, und ganz leise, irgendwo in der Ferne, konnte man tatsächlich schon ihre Glöckchen hören. Mein Papa hat mir erzählt, was für ein besonderer Tag das für die Hirten ist, der Tag, an dem sie zurückkehren in ihr Heimatdorf. Dass er früher auch einer von ihnen gewesen ist und wie froh er an diesem Tag immer war. Und dass er eines Tages selber hierher zurückkommen wolle, nach Salur. Ich habe gespürt, wie glücklich er in dem Moment war. Ein Jahr später haben sie ihn erschossen.
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Zweites Kapitel
Eine deutsche Karriere
Blumensträuße beim Großhändler zu erwerben und diese an der Straße weiterzuverkaufen, reichte meinem Vater schon bald nicht mehr. Warum, fragte er sich, sollte er sich nicht einfach die viel billigeren Schnittblumen beschaffen und die Sträuße selber binden? Eines Tages besorgte er sich lose Blumen, setzte sich in unseren Keller und probierte es aus, nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Er hatte noch nie einen Blumenstrauß gebunden, aber unzählige waren schon durch seine Hände gegangen. Das Erste, wonach er griff, waren die Chrysanthemen. Danach Gerbera und Schleierkraut, dazwischen grüne Blätter. Er nahm Orchideen und steckte Rosen in die Mitte. Er arbeitete nicht schnell, sondern fügte sorgfältig eins zum anderen, und zum Schluss wagte er kleine Experimente. Von seinem letzten Besuch in die Heimat hatte er Rosenöl aus Isparta mitgebracht. Damit beträufelte er seine ersten selbstgebundenen Sträuße. Sie verkauften sich besser als die fertigen. Nach ein paar Wochen, er hatte mehr und mehr Sträuße selbst fabriziert, fragte ihn eines Mittags auf der Straße oder eines Abends in einer der Billigpensionen der erste Händlerkollege: Woher hast du denn die schönen Sträuße? Wie – selber …? Kannst du mir auch welche machen?
Jetzt erkannte mein Vater seine wirkliche Chance. Schnittblumen beim Großhändler einkaufen, daraus Sträuße binden und die verkaufen, das war noch nicht ideal. Was, so überlegte er, wenn er die Blumen gleich selbst dort holte, wo die Rohware billig ist? Wenn er den Großhändler umging? Schon das würde wesentlich größere Gewinnspannen erzielen. Und was, wenn er andere Händler gleich mitversorgte? Dann wäre er kein Straßenhändler mehr, sondern selbst ein Großhändler. Er könnte auch beides machen. Sträuße herstellen, Kollegen beliefern, selber weiterverkaufen. Für ihn allein mit seinen beiden Händen würde das allerdings langsam etwas zu viel … Vater war unternehmungslustig und entschlossen, er konnte arbeiten bis zum Umfallen und scheute kein Risiko, und er wollte sein Geschäft unbedingt vergrößern. Also beschloss er, den nächsten Schritt zu wagen. Selbst wenn er dafür noch mehr buckeln, sich noch stärker selbst ausbeuten müsste als bisher. Er tat es, und er tat es für uns. Das Blumengeschäft war mittlerweile längst größer als ein Nebenjob für das Wochenende, wenn in der Fabrik das Band stillstand. Mein Vater spürte schon seit längerem: Mit Blumen ließe sich in diesem grauen Land etwas erreichen.
Nun veränderten sich die Dimensionen, es ging plötzlich um mehr als einen Klapptisch am Straßenrand. Der Weg dorthin führte über Holland. An der großen Blumenbörse im niederländischen Naaldwijk kann nicht jeder einfach so mitsteigern. Die Coöperatieve Bloemenveiling FloraHolland, die die tägliche Großauktion organisiert, ist eine Genossenschaft, ein Dienstleister für mehr als fünftausend Mitglieder. Wer mitbieten will, braucht eine
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