Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
was schon länger gärte und mit ihm zu tun hatte. Jedenfalls haben wir beide nun ihren Zorn zu spüren bekommen. Weil mein Vater aber ruhig geblieben ist, wurde meine Mutter derart wütend, dass sie schließlich rausrannte, sich ins Auto setzte und davonrauschte. Vater fuhr ihr vorsichtshalber bis zur Autobahn hinterher und beobachtete aus der Entfernung, ob sie Richtung Fulda oder Richtung Frankfurt einbog. Richtung Frankfurt hieß, sie war auf dem Weg nach Friedberg zu ihren Brüdern, wo er sie gut aufgehoben wusste, Fulda hätte ihm Sorgen gemacht, da gab es kein festes Ziel, und er hätte ihr folgen müssen. Sie nahm die Auffahrt nach Frankfurt, also drehte mein Vater beruhigt um. Aufhalten hätte er sie sowieso nicht können, dafür ist meine Mutter viel zu temperamentvoll. Ihrer Wut konnte man nichts entgegensetzen, da half nur warten und still sein, bis das Unwetter sich verzogen hatte. An diesem Abend haben wir uns sogar lustig darüber gemacht. Sie hat wieder ihre Phase, haben wir gesagt und gelacht. Zwei Tage später haben wir sie in Friedberg abgeholt, es war alles wieder gut.
Mein Vater hat nur einmal so einen Ausbruch gehabt. Die Zufahrt zu unserem Lager in Schlüchtern war abschüssig, und mein Bruder und ich sind mit den Inlinern liebend gern die Schräge runtergesaust. Was wir eigentlich nicht durften, weil es zu gefährlich war. Dieses eine Mal hatte uns Vater erwischt und sagte, wir sollten das lassen. Wir haben nicht auf ihn gehört. Er wiederholte die Mahnung, aber wir sind einfach weitergefahren und taten, als hätten wir ihn nicht verstanden. Er hat’s erneut gesagt, und wir haben es wieder ignoriert – und da hat er uns angeschrien. Er ist tatsächlich einmal, dieses eine Mal ausgerastet. So hatte ich ihn noch nie erlebt, es blieb auch das einzige Mal, und ich war weniger erschrocken als erstaunt, sodass ich sofort meine Inliner ausgezogen habe. Die Sorge um uns hat ihn zum Schreien gebracht, die Angst, dass wir uns weh tun könnten, warf ihn aus seiner Ruhe und Ausgeglichenheit. Ansonsten sagte er schon, wenn ihn etwas nervte, ärgerte oder beschäftigte, aber meistens ging es dabei um Geschäftliches. Doch nachtragend war er nie.
Und er war alles andere als ein Pascha. Wenn meine Eltern von der Arbeit kamen, haben sie sich in die Küche gestellt und gekocht, zusammen haben sie Gemüse geschnitten und in den Töpfen gerührt. Die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, die Trennung der Aufgaben – er arbeitet draußen, sie kümmert sich zu Hause um Kinder und Küche –, das gab es in unserer Familie nur ganz am Anfang, in Flieden, als es nicht anders ging. Danach aber haben meine Eltern in allen Lebensbereichen gleichberechtigt nebeneinandergestanden, Vater hat in der Küche geholfen, und Mutter hat im Betrieb angepackt. Wenn meine Mutter mal krank war, dann hat er selbstverständlich den Hausmann gegeben, geputzt und gekocht; umgekehrt hat sie Kunden beliefert und Blumen zu den Ständen gebracht, hat im Lager aufgeräumt, Vasen zusammengestellt, Brautsträuße und Beerdigungsgestecke ausgefahren. Das war alles andere als typische Frauenarbeit. Wenn mein Vater manchmal erst sehr spät aus Holland kam, stand Mutter in der Nacht auf und ging mit ihm ins Lager, um beim Ausladen zu helfen, damit er nicht so allein war. Und auch sie fuhr an den Wochenenden häufig mit ihrem Passat nach Würzburg und hat dort am Straßenrand ebenfalls Blumen verkauft.
Ob die Verhältnisse in anderen türkischen Familien genauso waren, kann ich nicht sagen. Meine Tanten jedenfalls haben oft bei uns im Betrieb mitgearbeitet, während ihre Männer auf die Kinder aufpassten und ihren Frauen das Essen vorbeibrachten. Die klassische Aufgabenteilung war vielleicht in der Generation vorher noch die Regel, meine Eltern haben nicht mehr so gelebt.
Mein Vater war zu allen Entbehrungen bereit, wenn sie ihn voranbrachten. Aber er war auch raffiniert und nutzte jede Möglichkeit, seinen Verdienst zu erhöhen, und ein Heiliger war er dabei nicht. Als das Blumengeschäft immer besser lief, ließ er seine Stelle bei Phönix «ausklingen», wie er es nannte. Öfter und öfter meldete er sich krank, bis die Firma nicht mehr mitspielte und ihm kündigte. Das kam ihm gerade recht. Der Blumenvertrieb war auf meine Mutter eingetragen, und er meldete sich eine Zeitlang arbeitslos, bis das Amt ihm die Unterstützung mangels Bedürftigkeit strich. Auch seine Buchhaltung war kein Musterbild deutscher Seriosität und
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