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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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gläserner Transparenz aus wohlgeordneten Lieferscheinen, Bestellbelegen, Rechnungen und Quittungen. Vieles lief bar von der Hand in die Hand, viel beruhte auf Absprache und Vertrauen. Zwar hatten meine Eltern einen Steuerberater, dem sie die Belege für Einnahmen, Ausgaben und vieles Weitere anvertrauten. Aber steuerlich ganz korrekt wird wohl nicht alles zugegangen sein. Geld bewahrten meine Eltern oft im Schlafzimmer unter der Matratze auf.
    So ruhig und besonnen mein Vater war, er hatte auch seine Schwächen. Manchmal brach er aus. In seinen ersten Jahren in Deutschland hat er oft Karten gespielt und blieb dann ewig im Café sitzen, bisweilen trank er Alkohol, auch wenn er sich nicht richtig betrunken hat. Das waren die kleinen Ventile, die er als junger Familienvater und emsiger, immer arbeitender Unternehmer wohl einfach brauchte. Nur in einer Nacht hat er sich mit geradezu abgründigem Schwung ins Glücksspiel gestürzt, dieses eine Mal vergaß er alle Verantwortung und Disziplin. Das passte eigentlich gar nicht zu seinem Charakter, aber das war zu einer Zeit, in der ihm der tägliche Druck und der wachsende Blumenhandel zu viel wurden. Um Weihnachten 1997 lag meine Mutter wegen chronischer Probleme mit ihrem linken Ohr im Krankenhaus, es war nicht das erste Mal; wir Kinder waren bei den Verwandten untergebracht, und mein Vater, der Strohwitwer, saß im türkischen Café Harem in Schlüchtern. Im Lauf des Abends gesellte er sich zu einer Kartenrunde und begann, bei einer Pokervariante mit dem sprechenden Namen «Harakiri» mitzuspielen – und genau das beging mein Vater als ungeübter Gelegenheitsspieler an diesem Abend. Was sich in jener Nacht genau abspielte, weiß ich bis heute nicht. Die Gerüchte besagen, dass mein Vater irgendwann Spielschulden von fünfzehntausend Mark angehäuft hatte. Er machte weiter, und dann wendete sich das Blatt. Er hatte riesiges Glück, bis der Verlust nur noch bei dreitausend Mark stand. Dummerweise hat er es abgelehnt, diese Schuld zu begleichen, und bestand auf einer Revanche. Vierzehn Tage später setzte er sich erneut an den Spieltisch und stand am Ende tatsächlich mit nur noch ein paar hundert Mark in der Kreide. Angeblich hat er auch diese Schuld nie beglichen und sich standhaft geweigert, seinem Gläubiger die paar Hunderter hinzuzählen. Es scheint fast, als hätte er nicht einsehen wollen, dass all das tatsächlich geschehen war.
    Jenseits dieses bizarren, untypischen Ausbruchs an Unvernunft war Vater ein sparsamer Mensch. Manche nannten ihn geizig. Dabei hat er nur die Armut in Erinnerung behalten, in der er aufgewachsen ist. Oft erzählte er, wie schlecht es seiner Familie früher ging, dass schon ein kleines Spielzeug für ihn und seinen Bruder etwas Besonderes war, über das sie sich tagelang freuten. Diese Armut hat ihn geprägt, die Erinnerung daran saß ihm im Nacken, auch noch, als er längst ein gutverdienender Mann war. Er hat nie aufgehört, seinem Wohlstand zu misstrauen, ihn als flüchtig anzusehen, und deshalb war er immer darauf bedacht, sein Geld zusammenzuhalten. Die Folie, mit der er seine Lastwagen beschriftete, kaufte er in der Türkei, wo sie günstiger war. Aus Holland brachte er oft Gurken und Tomaten mit, weil er entdeckt hatte, wo es billiges Gemüse zweiter Wahl gab. Fuhr er länger weg, zur Blumenbörse oder nach Nürnberg, hatte er immer zu essen und zu trinken dabei, der Kaffee an den Autobahnraststätten erschien ihm als sinnlos teurer Luxus. Er nahm dicke Bündel von Geldscheinen mit zum Blumeneinkaufen, um die hohen Gebühren an den Bankautomaten im Ausland zu vermeiden. Und während andere Großhändler Rosen mit geknickten Stielen ausmusterten und wegwarfen, legte mein Vater solchen Ausschuss sorgsam beiseite und band die gesammelten Stummelblumen am Ende zu kleinen Spezialsträußen zusammen.
    Dabei hat ihm das Materielle an sich nicht viel bedeutet. Er hätte sich einen Porsche leisten können, aber er hatte noch nicht einmal eine teure Uhr. Meistens trug er ein einfaches Hemd, eine schlichte Wolljacke und eine graue Stoffhose, an deren Taschen er in der Türkei Reißverschlüsse hatte nähen lassen, weil er immer so viel Bares dabeihatte. Auch bei uns zu Hause sah es bescheiden aus. Niemand wäre angesichts unserer Wohnungseinrichtung auf die Idee gekommen, dass meine Eltern einen florierenden Großhandel betrieben und in guten Wochen schon mal zehntausend Mark Gewinn erwirtschafteten. In der türkischen Gemeinde raunte man halb

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