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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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besorgt. 1990 hat sich mein Vater sogar in den Vorstand des Moscheevereins wählen lassen, das Amt nach zwei Jahren aber wieder niedergelegt, weil er zu wenig Zeit dafür hatte. Später hat er seine Aufenthalte in der Moscheegemeinde auch genutzt, um dort Kontakte zu pflegen, Leute anzusprechen und Mitarbeiter zu rekrutieren. So kam es, dass irgendwann die meisten Muslime, die die Moschee in Schlüchtern besuchten, etwas mit Blumen zu tun hatten. Sie haben Blumen verkauft, damit gehandelt, Sträuße gebunden. Mein Vater hatte damit angefangen, und er hat sie alle angesteckt.

    Dass aus uns Kindern etwas werden sollte, haben wir nach der Grundschule gespürt. Mit sechs, sieben Jahren war ich ein sehr stilles Mädchen, aber mit dreizehn, vierzehn wurde ich ein Sturkopf. Ich trickste, um die Anweisungen meiner Eltern zu unterlaufen. Wenn ich zum Beispiel staubsaugen sollte, rief ich: Ja, mach ich gleich. Und habe dann natürlich nichts getan, bis meine Mutter die Sache irgendwann vergessen hatte oder selber erledigte. So kam es immer häufiger zum Streit. Ich hatte einen anderen Freundeskreis, habe angefangen zu rauchen, und meine Noten wurden schlechter – ich hatte einfach kein Interesse an der Schule, ich wollte draußen sein und durch die Stadt ziehen, ohne mich um etwas kümmern zu müssen. Meine Eltern konnten mich nicht mehr kontrollieren, gleichzeitig hat sie das Geschäft immer mehr gefordert und ihnen immer weniger Zeit für uns gelassen. In der siebten Klasse schickten sie mich deshalb auf ein Internat nach Aschaffenburg, wovon ich wenig begeistert war. Auch mein Bruder wechselte aufs Internat, aber er wollte das selber. Er kam in Schlüchtern nicht zurecht, und als mein Vater hörte, dass es in Völklingen ein gutes türkisches Jungeninternat gibt, ging Kerim dorthin. Er kam nur jedes zweite Wochenende und in den Ferien nach Hause, er war dort gern und fand rasch Freunde. Ich wollte nicht ins Internat, denn ich wusste, dass es dort strenger als zu Hause zuging. Meine Eltern mussten mich überreden, und mein Vater hätte mich wohl auch lieber dabehalten. Aber meine Mutter setzte sich durch. Später hat sie mir erzählt, wie traurig Vater in der ersten Woche ohne mich war. Er konnte aber bald loslassen, und er wusste ja, dass es für mich das Beste war.
    Die Eingewöhnung an den neuen Rhythmus fiel mir leichter als gedacht, auch mit dem bayerischen Schulsystem in Aschaffenburg kam ich besser zurecht. Ich habe zwar in einem türkischen Internat gewohnt, aber wir sind ganz normal auf eine staatliche Schule gegangen. Der Unterricht dauerte bis drei oder vier Uhr nachmittags, bei den Hausaufgaben und der Nachhilfe wurden wir von türkischen Lehrerinnen betreut. Zusätzlich gab es abends oft Diskussionsrunden, für die wir recherchiert und Bücher gelesen haben, über deutsche wie türkische Themen, die Geschichte des Osmanischen Reichs, den Propheten, die türkische Kultur. Es wurde Wert darauf gelegt, dass wir türkisch sprachen und lasen. Wir waren zwölf oder vierzehn Mädchen im Internat, da wächst man zusammen. Natürlich gab es verschiedene Gruppen, und die Älteren mussten sich um die Jüngeren kümmern. Vorher hatte ich nie Lust auf Verantwortung gehabt, und nun fand ich es schön. In dieser Internatszeit wurde ich selbständig, das Leben dort hat mir Spaß gemacht.

    1998, als mein Vater siebenunddreißig Jahre alt war, fügte er seinen Straßenständen und dem Großhandel noch ein drittes Unternehmen hinzu: ein Blumengeschäft in Schlüchtern, einen sechzig Quadratmeter großen Laden, in dem es Schnittblumen, Gestecke, gebundene Sträuße, Topfpflanzen und einen Fleurop-Service gab. Er stellte eine deutsche Floristin als Geschäftsführerin an, und bald lief der Laden gut. Doch obwohl mein Vater hier nicht selbst an der Kasse stand und die Leitung abgegeben hatte, trug auch dieser Laden dazu bei, dass seine Arbeitstage noch länger wurden, und mit dem Ausbau der Geschäfte wuchsen auch die Sorgen und Zweifel, ob ihn diese Expansionen nicht doch überforderten, ob er den laufenden Bankkredit bedienen konnte oder sich womöglich doch übernommen hatte – und ob er sich nicht kaputtarbeitete.
    Außerdem hatte er Ärger mit der Konkurrenz, vor allem mit Cakir, einem Friedberger Blumengroßhändler. Bei ihm hatte er in seinen Anfängen selber eingekauft, mittlerweile aber waren viele von Cakirs Kunden zu meinem Vater abgewandert. Da blieben Spannungen nicht aus, und beide Seiten arbeiteten mit Kniffen und

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