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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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oder reich ist, nichts über seine Herkunft oder seinen Charakter, beim Hadsch werden alle gleich vor Gott. Diese Kleider stehen für das Leichentuch, in dem der Muslim beigesetzt wird. Alles, was im normalen Leben wichtig ist, zählt jetzt nichts mehr.
    Der berühmteste Moment des Hadsch ist der Zug um die Kaaba in Mekka, siebenmal umrunden die Pilger den schwarzen, mit einem goldenen Fries gegürteten Quaderbau. Das eigentliche Wesen der Pilgerreise aber zeigt sich zuvor am «Berg der Vergebung». So wird der fünfundzwanzig Kilometer östlich von Mekka gelegene Arafat genannt, wo der Prophet Mohammed seine letzte Predigt gehalten haben soll. Hier stehen die Pilger Stunden um Stunden, von Mittag bis zum Sonnenuntergang, etwa zwei Millionen Menschen im weißen Totenkleid – sie grüßen Gott, bitten um Vergebung, ziehen Lebensbilanz, lassen ihre guten und bösen Taten vor dem inneren Auge vorbeiziehen, gehen mit sich ins Gericht. Was ist der Sinn meines Lebens, meines Tuns und Lassens, meines Handelns und Treibens? Bin ich auf meinem Weg? Muss ich ihn erst noch finden? Was habe ich bisher erreicht? Was ist mir wichtig? Was zählt? Es ist eine stundenlange, radikale Gewissenserforschung. Sie macht den Hadsch zu einer Lebensentscheidung. Wer diesen Weg geht, verpflichtet sich, von da an die religiösen Gebote einzuhalten. Wer zum Hadsch aufbricht, sagt damit: Ja, ich traue mir zu, mein Leben danach auszurichten.

    Mein Vater zögerte also, aber meine Mutter hat ihn beherzt ermuntert und bestärkt, gewiss auch gedrängt. Sie hatte ihren heimlichen Grund dafür, über den sie nie sprach, aber er hat es wohl geahnt. Sie wollte verhindern, dass sich etwas wie das «Harakiri»-Spiel wiederholte. Die Reise sollte Vater läutern – und Mutter hat ihn überzeugt. Im Februar 1998 sind meine Eltern zusammen mit der Mutter meines Vaters aufgebrochen. Von der vierwöchigen Reise schwärmt meine Mutter noch heute. Vielleicht hat es mit Schicksal zu tun, dass mein Vater ihr diesen Wunsch erfüllte.
    Keiner, der meinen Vater näher kannte, konnte übersehen, wie ihn die Pilgerfahrt verändert und inspiriert hat. Sie hat ihn wirklich religiöser, auch sittenstrenger gemacht. Er setzte sich an keinen Kartentisch mehr, ließ sich nicht einmal mehr zur bloßen Unterhaltung ein Blatt auf die Hand geben. Bekannte, die ihm am Herzen lagen, rügte er jetzt öfters: Sie sollten nicht so viel Zeit vertrödeln, die Finger vom Spiel lassen, ihr Geld besser zusammenhalten, sich mehr um ihre Frauen kümmern. Bei den Frauen der anderen Männer stieg er im Ansehen, ihre Ehemänner waren dagegen weniger begeistert über seinen Lebenswandel, und manche haben sich bestimmt über sein Moralheldentum lustig gemacht.
    Nach der Pilgerfahrt ließ er jeden Freitag zwischen zwölf Uhr mittags und drei Uhr nachmittags die Geschäfte ruhen, um in der Moschee zu beten. Auch unter der Woche hielt er jetzt penibel die Gebetszeiten ein. Von nun an hatte er bei seinen Fahrten nach Holland oder Nürnberg im Lastwagen einen Gebetsteppich dabei, mit Fransen und Troddeln, Mustern und Ornamenten verziert. Er betete zu Hause und in der Moschee, er betete im Stauraum des Lieferwagens oder neben Schirm und Klapptisch am Straßenrand. Seine Wirtin in Allersberg öffnete einmal versehentlich am Abend seine Zimmertür, sie fand ihn wach, aber nicht ansprechbar, er war völlig ins Gebet vertieft.
    Die Abende verbrachte er nun in der Regel zu Hause bei meiner Mutter, vor dem Zubettgehen rauchte er noch eine Zigarette, aß ein paar Trauben oder eine Scheibe Melone und legte sich früh schlafen. Wenn er doch einmal ausging, war sein Ziel die Moschee. Eine Moschee ist nicht bloß ein Gotteshaus, sondern eine Art Kulturzentrum, eine Anlaufstelle für die ganze Gemeinde, ein Ort der Geselligkeit. Manche trafen sich in Schlüchtern einfach in der Moschee, um miteinander Darts und Billard zu spielen, Tee zu trinken und sich zu unterhalten. Die Gläubigen gingen ein Stockwerk höher, wo die eigentlichen Gebetsräume waren.
    Zunächst gab es in Schlüchtern keine Moschee. Als sich die türkische Gemeinde zum Bau eines Gebetshauses entschloss, hat mein Vater viel geholfen. Sie übernahmen das Gebäude einer ehemaligen Schreinerei und gestalteten es um. Alles haben sie dort selber gemacht, Wände herausgerissen oder neu gestrichen, Böden gelegt, eine Küche eingebaut, die Gebetsräume mit Teppichen ausgekleidet, in den Veranstaltungssaal eine kleine Bühne gestellt, einen Billardtisch

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