Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
wie sehr er sich auf die Zeit nach der ununterbrochenen Arbeit freute. Wir standen gerade auf irgendeinem Autobahnparkplatz an einer Brücke, unter der ein Sportplatz lag, wo ein paar Jungs Fußball spielten. Wir hatten in Holland Tomaten gekauft, und plötzlich sagte Papa: Die spielen aber schlecht, vielleicht solltest du sie mal mit ein paar Tomaten anfeuern, damit sie endlich ordentlich rennen. Und das habe ich natürlich gerne gemacht … So albern und ausgelassen habe ich ihn sonst nie erlebt. In diesen Ferien gab es Tage, wo er wie befreit war.
Wir haben wieder öfters gegrillt in diesen Sommerferien, auch mit Freunden, mein Vater nahm sich wieder mehr Zeit für die Leute, die ihm nahestanden. Ich kann mich an einen Abend erinnern, zwei oder drei Wochen bevor er gestorben ist, an dem er derart viel gegessen hat, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Er kam nach Hause und sah aus, als sei er schwanger. Mama und ich haben gelacht und uns Sorgen gemacht, wir haben gefragt, warum er denn so viel gegessen habe. Und er seufzte, es habe einfach so gut geschmeckt, dass er nicht aufhören wollte. Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen, er hat gestöhnt, gejammert und sich herumgewälzt. Ich sehe ihn immer noch vor mir, wie er hilflos mit seinem Bauch in seinem grünen Pyjama durch die Wohnung lief. Der grüne Pyjama, wie wir uns über ihn lustig gemacht haben – ich werde das nicht vergessen. Am Ende der Ferien fuhr ich zurück ins Internat. Die Erinnerungen an diese Wochen bleiben etwas Kostbares, sehr Intensives für mich. Heute bin ich froh, dass ich doch nicht in die Türkei geflogen bin, nach all dem, was dann geschah.
Was ist denn mit Enver los, haben sie in Schlüchtern gefragt, er ist ja wie ausgewechselt. Er arbeitet weniger, und stell dir vor, hieß es, er hat jetzt einen Gehilfen für seinen Stand in Nürnberg! Tatsächlich verkaufte ein Türke, der bei Nürnberg wohnte, jetzt dort die Blumen. Mein Vater fuhr am Samstagmorgen die Sträuße hin, half, den Stand aufzubauen, und ging dann wieder nach Hause. Das hat die Bekannten überrascht, das war nicht der Enver, den sie kannten. Auch meine Mutter spürte seine neue Lebensfreude. Seine Pensionswirtin in Allersberg erzählte, wie er eines Abends nach einem Telefonat in Sorge geriet und dann überraschend aufbrach. Seine Frau, erklärte er, habe Bauchschmerzen. Und schon saß er im Auto und fuhr zweihundertdreißig Kilometer nach Hause. Meine Eltern seien immer sehr verliebt ineinander gewesen, sagen unsere Verwandten noch heute. Meine Mutter fand stets, sie führten eine gute Ehe. Ihre Gefühle füreinander waren stark genug gewesen, um die Beziehung über alle Anstrengungen und Alltagssorgen hinweg zu tragen; hinweg auch über die Anfechtungen, die Vater bisweilen an den Kartentisch getrieben hatten. In ihren frühen Jahren, wenn er spät aus dem Café gekommen war und sie ihm eine Szene machte, gerieten sie manchmal ordentlich aneinander. Aber im Sommer des Jahres 2000 kam es meiner Mutter fast vor, als wären sie frisch verheiratet. Sie entdeckten einander aufs Neue, tauschten kleine Gesten der Zärtlichkeit aus, hier eine Neckerei, da ein beiläufiges Kompliment, sie freuten sich aneinander. Einmal, erzählte meine Mutter, sagte mein Vater zu ihr: Wenn ich sterben sollte, dann hole ich dich nach drei Tagen zu mir. Sie antwortete, genau wie er lachend und ernst zugleich, dass sie ihm gerne nachfolgen wolle.
Im September des Jahres 2000 hatte mein Vater die Weichen endgültig gestellt. Bald wollte er Versäumtes nachholen, mehr Zeit mit der Familie verbringen und vor allem weniger arbeiten. Am Samstag, dem 9. September, stand er früh auf, es war noch Nacht. Er richtete sich nach Mekka aus, verbeugte sich, kniete nieder, legte die Stirn auf den Teppich und sprach das Fadschr, das erste Gebet vor Sonnenaufgang.
Allah ist der Allergrößte, Preis sei Dir, o Allah, und Lob sei Dir, und gesegnet ist Dein Name, und hoch erhaben ist Deine Herrschaft, und es gibt keinen Gott außer Dir.
Mein Vater brach auf nach Nürnberg, aber an diesem Tag würde er nicht bloß Blumensträuße anliefern und gleich wieder umkehren wie im Sommer, sondern wie in den letzten Jahren am Stand bleiben und verkaufen. Sein Verkäufer war für einige Wochen in die Türkei gefahren, und so vertrat mein Vater ein paar Wochenenden lang seinen Angestellten. In der angestammten Parkbucht im Süden Nürnbergs würde er die Werbeschilder aufstellen, dann bis zum Abend hinter seinem
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