Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Einkommen, aber auch viel weniger Stress.
Seine Träume, in die Heimat zurückzugehen, wurden immer konkreter. Die Häuser waren über die Jahre fertig geworden, darum hatte er sich aus der Ferne und in den Ferien gekümmert. Er kaufte in Salur Land und wollte dort eine Schafzucht aufbauen, wollte mit ein paar hundert Tieren und gemeinsam mit seinen Brüdern an die Arbeit seines Vaters und die Geschichte der Familie anknüpfen. Aber das blieben vorerst vage Pläne. Kerim und ich waren fast noch Kinder, wir sollten ja studieren und unsere eigenen Wege einschlagen. Wohin, in welches Land würde es uns ziehen? Für eine Heimkehr schien meinem Vater die Zeit noch nicht reif. Dafür war eine andere Idee weiter gediehen. Einige Männer in der Moschee in Schlüchtern brüteten seit längerem darüber, eine Koranschule für türkische Kinder und Jugendliche einzurichten, eine Art Internat aufzubauen, einen Ort der Bildung und der Religiosität, mit Nachhilfeunterricht für Jugendliche, die in der Schule zu kämpfen hatten. Hier wollte sich mein Vater einbringen, sobald er künftig mehr Zeit hätte.
Bald nahmen die Pläne zum Verkauf des Blumengroßhandels Gestalt an. Zunächst hatte er vor allem Verwandte angesprochen, ob sie Interesse hätten, über den Preis könne man sich schon einigen … Als diese Versuche im Sand verliefen, weil der eine sich von so einer Aufgabe überfordert fühlte und ein anderer das Startkapital nicht aufbringen konnte, streckte mein Vater seine Fühler weiter aus und fand schließlich einen Blumenhändler in der Nähe von Ulm, dem er zutraute, sein Unternehmen weiterzuführen. Der Mann kam mit seiner Frau ein paarmal vorbei, sie haben bei uns übernachtet und lang mit meinem Vater über die Geschäftsabläufe geredet. Am Valentinstag nahm Vater ihn mit auf die Tour zu unseren Ständen, auch nach Holland sind sie öfter gefahren. Er hat ihn richtig angelernt, er wollte den Erfolg des Betriebes auch weiterhin sicherstellen. Im April 2000 stand die Übergabe weitgehend fest, mein Vater wollte noch das Oster- und Muttertagsgeschäft mitnehmen, die Arbeit danach ruhig ausklingen lassen, und im Herbst oder im Winter sollte sein Nachfolger alles übernehmen.
Diesen Endspurt nutzte mein Vater noch einmal aus. Er arbeitete bis zum Umfallen – Fahrten nach Naaldwijk, Sträußebinden, Standdienst. Mutter und ich waren davon nicht begeistert, und ich habe sogar gedroht, in den Sommerferien mit meinem Onkel in den Urlaub zu fliegen, weil mein Vater sowieso keine Zeit habe. Hursit und Ümmü wollten mich tatsächlich sechs Wochen mit in die Türkei nehmen, es tat ihnen leid, dass ich wegen der vielen Arbeit meiner Eltern in den letzten Jahren nur noch selten in die Ferien fahren konnte. Mein Plan hat Papa getroffen. Er überließ die Entscheidung mir, sagte aber, dass er traurig wäre, wenn ich den ganzen Sommer über fort sei. Und er hat mir einen Vorschlag gemacht: Falls ich zu Hause bliebe, würde er die ganzen Sommerferien über nur noch montags nach Holland und am Wochenende nach Nürnberg fahren, die Zeit unter der Woche aber freimachen und mit meiner Mutter, Kerim und mir verbringen. Er versprach es – und ich habe eingewilligt: Okay, wenn du mir das wirklich versprichst, bleibe ich hier. Er hat auch meiner Mutter versprochen, dass sie nach der Geschäftsübergabe nie wieder so hart schuften, ja, dass sie gar nicht mehr arbeiten müsse.
Es wurden wunderbare Wochen, in denen wir mehr miteinander unternahmen, mehr Ausflüge machten als in den ganzen Jahren davor. Einmal konnten wir uns als Friedensstifter in einem Konflikt zwischen der deutschen und türkischen Lebensweise betätigen. Ein Onkel meines Vaters, der in Köln lebte, hatte sich mit seiner Tochter zerstritten. Sie war abgehauen von zu Hause und zwischenzeitlich sogar in die Türkei ausgebüxt, bevor sie zurückkam und zu ihrem Freund zog. Dass die beiden einfach so zusammenlebten, war ein Schock für ihren Vater, ein völlig unangemessenes Verhalten für eine türkische Tochter, und er wollte nicht mehr mit ihr reden. Wir haben dann abwechselnd mit beiden gesprochen, mussten ein paarmal hin- und herfahren, aber am Ende haben wir sie wieder ins Gespräch gebracht, sie setzten sich zusammen und schafften es, die Probleme zu besprechen. Schließlich gab es ein gemeinsames Abendessen, und sie haben sich versöhnt.
Eine Woche nach diesem Erlebnis bin ich mit meinem Vater nach Holland gefahren und konnte spüren, dass er sich veränderte,
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