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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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Tricks. Mein Vater fuhr einmal bei einem Händler vorbei, den Cakir belieferte, kaufte ein paar Sträuße und sezierte sie regelrecht, untersuchte, was Cakir anders machte, um seine eigenen Gebinde zu verbessern und ihn zu übertrumpfen. In der Arbeitshalle animierte er die Blumenbinder oft: Die Sträuße müssen schöner werden als die von Cakir!
    Cakir hingegen lockte die kleinen Händler mit dem Angebot, sie müssten die Ware nicht mehr bei ihm in Friedberg abholen, er würde die Sträuße ausfahren, würde sie bis vor die Haustür und sogar bis nach Schlüchtern bringen … Als das eines Tages Vater gesteckt wurde, fing er nicht an zu schimpfen. Er soll, sagten die Blumenbinderinnen, ganz still geworden sein. Dann habe er sich eine Zigarette angesteckt und heftig daran gezogen. Danach habe er Cakir angerufen, und ein Wort gab das andere. Er mache ihm seine Kunden abspenstig, beschwerte sich Vater, er setze den Leuten Flöhe ins Ohr, überhaupt säe Cakir Zwietracht in Schlüchtern. Der ließ das natürlich nicht auf sich sitzen und warf umgekehrt meinem Vater vor, er bedränge seine Kunden, indem er die eigenen Standplätze ganz in deren Nähe aufbaue. Zu allem Überfluss waren sich Cakir und mein Vater auch politisch nicht grün. Cakir sagten die Leute nach, er stehe der kurdisch-marxistischen Widerstandspartei PKK nahe, womöglich sei er da gar ein wichtiger Mann und sammle Geld für den Untergrund. Mein Vater dagegen war religiös-nationalbewusst orientiert. Zu den Kleinhändlern der Schlüchterner Moschee, die mit Cakirs Angeboten liebäugelten, sagte er: Von dem Geld, das ihr ihm gebt, kauft die PKK Waffen gegen unsere «Mehmetcik», unsere Söhne bei der türkischen Armee. 1999 erreichte der Konflikt seinen Höhepunkt. Mein Vater hatte wieder einmal mit Cakir telefoniert. Anschließend kam er ganz blass aus dem Büro und sagte zu seinen Blumenbinderinnen, Cakir wolle ihn «fertigmachen», aber er habe keine Angst, fertigmachen könne ihn nur sein Gott. So redete er öfters seit dem Hadsch: Furcht habe er nur vor Gott, sein Leben liege allein in Allahs Hand.
    Die länger und länger werdenden Arbeitstage, der Konflikt mit Cakir, das alles setzte meinem Vater zu. Seit er 1998 den Blumenladen eröffnet hatte, sagte er immer öfter, dass er mit vierzig Jahren aufhören wollte – ab vierzig wollte er genießen, ein ruhigeres Leben führen, sogar das Rauchen bleibenlassen. Wenn meine Mutter einen schlechten Tag hatte und kaputt war von der vielen Arbeit, ermunterte er sie: Auf, das ist jetzt der Endspurt, nur noch zwei Jahre …
    Seine Blumenhändlerzeit dauerte nur acht, neun Jahre. Was sind schon neun Jahre? Eine ziemlich kurze Zeit – und verdammt lange, wenn man all diese Jahre fast ununterbrochen durcharbeitet und immer mit zu wenig Schlaf auskommen muss. Es ging an seine Substanz, man sah es meinem Vater an. 1998, in seiner erfolgreichsten, aber auch intensivsten Zeit, war er erst siebenunddreißig. Aber er wirkte älter. Nicht direkt gealtert, nicht verlebt, aber einfach sehr, sehr erschöpft. 1997 hatte er unter einem Hautausschlag gelitten und musste deswegen in Behandlung, der Arzt diagnostizierte eine Gürtelrose, die stressbedingte Ursachen haben könnte. Hinzu kamen die Bandscheibenbeschwerden. Und auch meiner Mutter ging es immer wieder sehr schlecht, sie hatte ihre Probleme mit dem Ohr und manchmal derart heftige Schwindelgefühle, dass nur Infusionen halfen.
    Mit der Zeit musste mein Vater sich die Frage stellen, wie lange das so weitergehen könne. Woche für Woche dieses Hasten von Schlüchtern nach Naaldwijk, am Wochenende die Fahrten nach Nürnberg, das ewige Hin- und Hereilen zwischen Blumenbörse, Blumenlager, Blumenstand. Wie viele Jahre ließ sich das durchhalten? Jahr für Jahr hatte er morgens um fünf Uhr mit der Arbeit angefangen und abends um neun aufgehört, hatte Hunderttausende von Kilometern zurückgelegt, Abertausende Stunden beim Sträußebinden verbracht. Jetzt schlug er manchmal neue Töne an. Zu meiner Tante sagte er einmal: Ins Paradies kann man kein Geld mitnehmen, nur das weiße Leichentuch, und ein Leichentuch hat keine Taschen. Wir alle merkten, dass es ihm zu viel wurde. Anfang 2000 beschloss er, den Blumengroßhandel zu verkaufen. Der Erlös und das angelegte Geld würden uns versorgen, und drei oder vier Blumenstände könnte er ja weiterbetreiben. Er würde wieder so arbeiten, wie er einst angefangen hatte, als Kleinhändler, nur ruhiger. Das hieß weniger

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