Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
sie sich gerade etwas zu essen machte, klingelte es. Sie öffnete, und zwei Polizisten platzten in unsere Wohnung und begannen, auf sie einzureden. Meine Mutter war völlig verwundert und dachte nicht im Entferntesten daran, dass ihrem Mann etwas passiert war. Sie verstand im ersten Moment gar nicht, wovon die Uniformierten sprachen. Es drang nicht zu ihr durch, wen sie meinten, sie verstand nur, dass irgendjemand umgebracht worden war. Dann begriff sie, dass Vater etwas zugestoßen sein könnte, ein Autounfall, ein Überfall? Von da an war sie aufgelöst und ganz durcheinander, dazu die sprachlichen Verständigungsprobleme, die die Aufregung noch verstärkten. Immer wieder hat sie uns später von diesen entsetzlich verwirrenden und beängstigenden Minuten erzählt, immer wieder.
Mittlerweile kann ich vermuten, woran es lag, dass dieser Besuch so wenig einfühlsam war, so gar nicht, wie man sich das Überbringen einer solch furchtbaren Nachricht vorstellt. Schon im allerersten Fax, in dem die Nürnberger Polizei ihre Kollegen in Schlüchtern verständigte, stand deutlich, man solle Angehörige ausfindig machen und über das Geschehene informieren – und sie auch gleich «vernehmen, insbesondere zu einem möglichen Tatverdacht». Diese Formulierung lässt vieles offen. Sollten sie fragen, ob meine Mutter einen möglichen Täter benennen konnte? Oder herausfinden, ob meine Mutter selbst etwas damit zu tun haben könnte? Ich denke, es ging von Anfang an um beides.
Dann kam mein Onkel Hüseyin hinzu. Er hatte von einem Blumenverkäufer erfahren, dass etwas passiert war, und daraufhin bei der Polizei in Nürnberg angerufen. Hüseyin erklärte nun seiner Schwester, dass ihr Mann mit schweren Schussverletzungen im Krankenhaus liege. Sie brach zusammen. Die beiden fuhren noch in der Nacht nach Nürnberg in die Klinik.
Als ich selbst am nächsten Morgen dort ankam, war meine Mutter nicht da, sie konnte mir nicht beistehen, als ich ans Bett meines Vaters trat. Sie wurde zu der Zeit in Nürnberg auf der Polizeistation vernommen. Die Beamten dachten wohl, sie könnte hinter dem Anschlag stecken. Nicht, dass sie ausdrücklich verdächtigt wurde an diesem 10. September, aber manche Fragen des Kommissars zielten in diese Richtung. Er stocherte offenkundig nach privaten Problemen: Hat Ihr Mann sich in zwielichtigen Kneipen herumgetrieben? Hat er Alkohol getrunken? Gab es Probleme in der Ehe? Hatten Sie Streit miteinander? Auch Onkel Hüseyin hat bereits in den ersten Vernehmungen, denen er sich stellen musste, solche Untertöne herausgehört: Was haben Sie am 9. September gemacht? Wo waren Sie? Können Sie das belegen? Gibt es dafür Zeugen?
Wir wissen bis heute nicht sicher, wie der Verdacht gegen meine Mutter und ihre Brüder aufkeimte. Was wir wissen, ist dies: Bereits in seinem ersten Anruf bei der Nürnberger Polizei am 9. September bat Onkel Hüseyin die Kriminalbeamten, sie sollten seine Schwester mit der Nachricht bitte nicht überfallen, sie sei ohnehin gesundheitlich angeschlagen und würde es nicht aushalten, wenn sie unvorbereitet und ohne Beistand mit dieser Schreckensmeldung konfrontiert würde. Auf gar keinen Fall sollte die Polizei gleich zu ihr gehen, sondern unbedingt warten, bis er vor Ort sei und seiner Schwester beistehen könnte. Er wolle nicht, dass sie alleine wäre in diesem Moment.
Onkel Hursit hielt sich zu der Zeit in der Türkei auf. Seine kleine Tochter Beyza ging noch nicht zur Schule, er konnte es sich deshalb erlauben, drei Monate wegzubleiben. Er hatte irgendwie erfahren, dass etwas bei uns nicht stimmte, ich glaube, Hüseyin hatte kurz angerufen, ohne richtig mit ihm reden zu können. Daraufhin versuchte Hursit, seinen Schwager zu erreichen. Offenbar ging dann schon ein Polizist an dessen Handy und hörte, wie mein Onkel ganz aufgelöst fragte: Bist du am Leben, lebst du noch, lebst du noch?
Hüseyins Bitte und Hursits Anruf, so denken wir heute, haben die Polizei darauf gebracht, meine Mutter und ihre Brüder zu verdächtigen. Hursit hielten sie wohl für den Drahtzieher, der den Mord von der Türkei aus eingefädelt und sich damit gleichzeitig ein Alibi verschafft habe. Sein Anruf bei meinem Vater passte in dieses Bild, damit wollte er kontrollieren, ob er noch lebt, ob es geklappt hat. So in etwa haben sie sich das wohl zusammengereimt. Nach dieser Logik musste auch Onkel Hüseyins Bitte, nicht ohne ihn zu meiner Mutter zu gehen, verräterisch erscheinen: Er will dabei sein, damit
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