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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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zurück in Schlüchtern waren, gingen die Befragungen weiter und weiter und wurden immer belastender. Jedes Familienmitglied, jeder noch so entfernte Bekannte wurde vernommen und noch mal vernommen. Auch ich selbst. Wie schon im Krankenhaus fragten sie mich, ob mein Vater eine Pistole hatte, und auch diesmal konnte ich nur antworten: Ich habe nie eine gesehen, nein, ich glaube nicht, dass er eine besaß. Und plötzlich wechselten sie das Thema: Ich sollte ihnen die muslimischen Gebetszeiten erklären. Ich antwortete, dass man fünfmal am Tag betet und sich dabei nach dem Sonnenstand richtet. Ich hatte keine Ahnung, was das mit den Schüssen auf meinen Vater zu tun haben sollte.
    Am schlimmsten traf es von Anfang an meine Mutter. Schon am 28. September, nur wenige Tage nach der Beerdigung, wurde sie in der Polizeistation Schlüchtern von Nürnberger Ermittlern stundenlang mit Fragen traktiert. Sie wird das nie wieder vergessen können – den Druck, die Angriffe und Verdächtigungen, all das, was nun über sie hereinbrach, nachdem sie gerade unter unbegreiflichen Umständen ihren Mann verloren hatte.
    Von der ersten Vernehmung an haben sie sie hart angefasst. Sie hauten auf den Tisch und schrien sie an, dass sie damit zu tun habe, sie solle es endlich zugeben. Sie stellten meiner Mutter immer dieselben, quälenden Fragen, wahrscheinlich wollten sie herausfinden, ob sie wirklich jedes Mal das Gleiche erzählte oder die Geschichten plötzlich voneinander abwichen, ob sie sich in Widersprüche verwickelte. Manchmal wurde sie auf der Polizeistation vernommen, manchmal kamen die Beamten zu uns nach Hause und saßen im Wohnzimmer, tranken Tee und fragten dabei. Wenn die Polizisten sich ankündigten, backte oder kochte meine Mutter etwas. So bedrückt sie vor diesen Besuchen auch war, sie stellte sich in die Küche und bereitete etwas für die Gäste vor. So ist das bei uns, alles andere hätten wir als unhöflich empfunden. Ich frage mich heute, was die Beamten wohl gedacht haben, als die tief verzweifelte Witwe, die sie verdächtigten, ihnen immer wieder Gebäck servierte.
    Uns Kinder hatte meine Mutter bereits Ende September zurück ins Internat geschickt. Sie wollte, dass wir nach dem wochenlangen Ausnahmezustand wieder ein geregelteres Leben führten. Im Internat und in der Schule in Aschaffenburg wusste inzwischen jeder, was geschehen war. Man ließ mich da in Ruhe. Die Lehrer hatten den Kindern ans Herz gelegt, Rücksicht zu nehmen. Es war gut, dass ich schnell dorthin zurückging. Ich hatte da meine Freunde, sie waren ein kleines Stückchen Halt und lenkten mich ein bisschen ab. Natürlich kamen mir öfter die Tränen, und die anderen trösteten mich damit, dass Gott es so wollte und ich stark sein muss. Aber ich bin ein Mensch, der seine Gefühle nicht so deutlich zeigt, und richtig weinen konnte ich meistens nur, wenn ich alleine war.
    Selbst nach Aschaffenburg kam die Polizei einmal. Sie suchten mich am 29. September mittags in der Schule auf, zeigten mir Fotos und fragten: Ist dein Vater mal bedroht worden von einem Blumenhändler namens Cakir? Ich hatte den Mann noch nie gesehen. Dann legten sie mir Fotos von Hüseyin, von meiner Mutter, von Verwandten und von wildfremden Menschen vor. Ich wusste nicht, was all das zu bedeuten hatte. Ob mir jemand aufgefallen ist, wollten sie wissen, ob mir in Holland jemals etwas merkwürdig vorkam. Ob mein Vater mit jemandem Streit hatte. Ob er bedroht worden war. Warum er eigentlich irgendwann im Lauf dieses Jahres aufgehört hatte, selber am Stand zu verkaufen. Ich antwortete, dass er an den Wochenenden einfach mehr Zeit mit uns Kindern hatte verbringen wollen, aber ich spürte, dass sie mir nicht glaubten. Das ängstigte mich, aber ich konnte mit niemandem darüber reden.
    Meine Mutter wusste in dieser ersten Zeit nicht, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollte. Sie hatte ihren geliebten Mann verloren. Aber wer hatte uns das angetan? Und waren jetzt wir Kinder in Gefahr? Bedrückende Verdächtigungen lasteten auf ihr, sie musste die Vernehmungen über sich ergehen lassen, sich um Kerim und mich kümmern und um den Blumenhandel – von dem unklar war, wie es weitergehen sollte. Kein Wunder, dass sich die gesundheitlichen Probleme, die sie schon zuvor gehabt hatte, verschärften. Meine Mutter bekam psychisch bedingte Hautausschläge, litt unter Schwindelanfällen, schließlich suchte sie einen Therapeuten auf. Ihr Glaube hat ihr geholfen und verhindert, dass sie an alldem

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