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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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beantworten: Macht euch keine Sorgen, ihm geht’s gut, Mama ist gerade bei ihm im Krankenhaus. Ich weiß nicht mehr, wie ich das geschafft habe. Ich habe in dem Moment nicht an mich gedacht. Ich fühlte mich dazu verpflichtet, alle zu schützen, auch wenn mich die Situation emotional heillos überforderte, immer hatte ich Angst um meine Oma, Angst, dass sie krank wird vor Kummer.
    Am Freitag nach der Autopsie flogen wir mit dem Sarg in die Türkei, das hatten wir in der Zwischenzeit organisiert. Fast zwanzig Leute aus Deutschland begleiteten uns zur Beerdigung. In einem kleinen Konvoi fuhren wir von Antalya ins Heimatdorf meines Vaters, in der Nacht, drei Stunden über Landstraßen, mein Onkel und meine Mutter voraus, dahinter der Leichenwagen und ein Bus mit den übrigen Verwandten und Freunden. Um fünf Uhr morgens, kurz vor Salur, hielten wir an einer Tankstelle und warteten auf das erste Tageslicht, damit die Erwachsenen das Morgengebet verrichten konnten, das die Gläubigen nach den Regeln des Korans zwischen Dämmerung und Sonnenaufgang sprechen. «Wahrlich, der Mensch ist in einem Zustand des Verlustes», heißt es darin, «außer denjenigen, die glauben und gute Werke tun und sich gegenseitig zur Wahrheit und zur Geduld mahnen.»
    Jetzt war es an der Zeit, um die Verwandten in Salur anzurufen und ihnen zu sagen, dass wir auf dem Weg waren und Vaters Leichnam bringen, dass sie sich vorbereiten sollen auf seine Ankunft. In Salur gibt es wie in vielen türkischen Dörfern eine Lautsprecheranlage, über die zu Hochzeiten eingeladen wird und über die man auch verkündet, wenn jemand gestorben ist. So erfuhr Salur an diesem Morgen vom Tod meines Vaters. Den Schock, der alle traf, kann ich nicht beschreiben. Bei unserer Ankunft war schon die ganze Verwandtschaft im Haus meines Vaters versammelt. Die Männer trugen Vater, in ein weißes Leinentuch gehüllt, durch die Trauernden die Holztreppe hoch ins Schlafzimmer im ersten Stock. Dort wurde er auf dem Ehebett aufgebahrt, damit sich jeder von ihm verabschieden konnte. Eine Familie nach der anderen ging nach oben, trat an sein Bett und betete für ihn. Er lag da, der Kopf bandagiert, die Augen geschlossen. So konnte niemand sehen, wie schlimm die Wunden waren. Er lag ganz friedlich da.
    Dem Brauch folgend, legten die Männer ihn dann wieder in den Sarg und trugen ihn über den Schotterweg zur Moschee und zum Friedhof. Immer vier Männer betteten meinen Vater auf ihre Schultern, und nach einem Stück Weges übernahmen andere, so wechselten sie sich ab und teilten sich diesen letzten Dienst für meinen Vater. Fast das ganze Dorf kam zur Beerdigung, es müssen mehr als tausend Menschen gewesen sein. Alles stand still in Salur an diesem Tag.
    Die Frauen, auch meine Mutter und ich, gingen der Tradition gemäß den Weg zur Beisetzung nicht mit, wir blieben zurück im Haus, waren am Ende unserer Kräfte. Aber Kerim begleitete die Männer, er schritt im Trauerzug mit, hinter unserem Vater, durch die Hitze. Auch er war müde, die Beine ließen ihn fast im Stich. Doch er ging weiter, mit einer das Maß eines Dreizehnjährigen weit übersteigenden Tapferkeit. Auf dem Friedhof schüttete er Erde auf den Leichnam unseres Vaters, und danach erst rannte er weg, floh hinter Bäume, hinter schützendes Gestrüpp.
    Man muss sich ein türkisches Grab vorstellen wie einen Bettkasten aus weißem Marmor, in den der Tote gelegt und dann mit Erde bedeckt wird. Mit den Jahren wachsen Kräuter und Blumen darauf und können frei und wild dort gedeihen. Wenn sie sich im Wind bewegen, sagt man, fallen die Sünden von dem Toten ab. «Mustafa Oglu», Sohn des Mustafa, steht auf dem Grabstein meines Vaters, sein Name, Geburts- und Sterbedatum, und darunter der Satz: «Ruhuna Fatiha». Das ist eine Aufforderung, die erste Sure des Korans: Wer hierherkommt, möge seiner Seele ein Gebet schenken.
    Wenn ich heute am Grab sitze, sehe ich in der Ferne die Berge, in die im Frühling die Hirten ziehen, ich kann den Platz erkennen, an dem sie im Spätsommer vor der Rückkehr das große Feuer machen. Der Friedhof liegt nicht weit vom Haus meines Vaters. Man sieht die Grabstätte vom Balkon aus, auf der wir damals saßen, als wir die Glöckchen der Schafe hörten. So ist mein Vater in seine Heimat zurückgekehrt.

    Diese Tage in Salur waren, trotz unserer Trauer und unseres Schmerzes, eine Zeit der Ruhe – einer Ruhe, die man uns in den folgenden Monaten, ja Jahren in Deutschland nicht mehr ließ. Als wir

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