Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Rettungskräfte lieferten den lebensgefährlich Verletzten, den seine Papiere als Enver Simsek auswiesen, in die Chirurgische Notaufnahme des Klinikums Nürnberg-Süd ein, und dort mutmaßten die Ärzte bald, was später die Obduktion erhärtete: Drei Projektile steckten in seinem Kopf, zwei Kugeln im rechten Schulterbereich, dazu zwei Durchschüsse, einer ging durch den linken Unterarm, der andere hatte die Unterlippe und die linke Augenhöhle durchschlagen, bevor die Kugel oberhalb der Braue wieder ausgetreten war. Ferner eine Streifschussverletzung am linken Ellbogen und ein Fehlschuss, der das Wagendach traf. Neun Schüsse.
Die ersten Tage, ja die ersten Stunden sind oft entscheidend bei der Aufklärung von Tötungsdelikten, das weiß jeder Kriminalpolizist. Die Ermittlungsmaschinerie muss sofort anspringen und mit voller Drehzahl arbeiten, wobei Leerlauf unvermeidlich ist: Die Beamten müssen erste Schlüsse ziehen, Hypothesen bilden, verschiedene Verdachtsmomente erwägen, all diese ernst nehmen und ihnen nachgehen – doch gleichzeitig dürfen sie sich nicht vorschnell festlegen, sonst ermitteln sie womöglich geschäftig in die falsche Richtung. Manchmal müssen sie ihrem Bauchgefühl folgen – aber auf keinen Fall dürfen sie sich von ihren Emotionen blenden lassen. Sie müssen ihrem polizeilichen Erfahrungswissen vertrauen – aber damit laufen sie Gefahr, auch ihren eigenen Vorurteilen auf den Leim zu gehen. Sie arbeiten auf Hochtouren – und im Blindflug. Es ist ein Spagat.
Ein paar Dinge standen in diesem Fall gleich fest, da waren die Indizien und der Tatort eindeutig: Im Sprinter befanden sich neben einem ADAC-Kranken- und Unfallschutzbrief, einer Reisegewerbekarte, Quittungen, Belegen und einem Rucksack mit Waschzeug, Zigaretten und Schlafanzug auch, in einer Tasche auf der Mittelkonsole, 6860 Mark in Scheinen. Hatten die Täter das Geld übersehen? Schwer vorstellbar. Das Fahrzeug sah nicht aus, als habe es irgendwer nach Beute durchkämmt, auch Enver Simsek war nicht durchsucht worden. Als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, fand man in der rechten hinteren Hosentasche seinen Geldbeutel. Eine Bankkarte war darin, ein Foto seiner Frau Adile, eine Servicekarte der Pizzeria Enzo und 740 Mark, die Scheine sorgsam geordnet nach ihrem Wert. Raubmord? Ausgeschlossen.
Auffällig war, dass zwei Waffen bei diesem Verbrechen verwendet wurden, eine Ceska und eine Browning. Das deutete auf zwei Täter hin, auch wenn sich das nicht sicher sagen ließ. Aber eins war klar, der oder die Täter hatten aus kürzester Entfernung geschossen. Sie waren an die offene Schiebetür des Sprinters herangetreten, in dem Enver Simsek vermutlich gerade Blumen sortierte oder Nachschub holte, sie hatten geschossen, getroffen und wieder geschossen, neunmal insgesamt, achtmal trafen sie. Sie hatten noch geschossen, als er taumelte und versucht haben mochte, sich an einem Regal festzuhalten, sie hatten geschossen, als er am Boden lag. Sie hatten vom ersten Schuss an auf den Kopf gezielt. Sie hatten in reiner, unverstellter Tötungsabsicht gehandelt. Es war ihnen darum gegangen, diesen Mann umzubringen. Aus welchem Grund auch immer.
Die Polizeiarbeit folgt in diesen ersten Stunden Gesetzmäßigkeiten. Gibt es keinen offensichtlich Tatverdächtigen, rückt zunächst das Opfer ins Zentrum der Ermittlungen. Die Kripo leuchtet dessen persönliche und berufliche Lebensumstände aus, sucht nach Spuren, die zu einem Motiv führen könnten. Das bringt die Polizei unausweichlich in einen Zwiespalt. Sie ist verpflichtet, die Angehörigen des Getöteten so einfühlsam zu behandeln, wie es trauernde und traumatisierte Menschen verdienen – gleichzeitig muss sie die Hinterbliebenen auch mit unangenehmen Fragen konfrontieren, muss sie sogar zum Kreis der denkbaren Täter zählen. Wenn die Ermittler dabei zu forsch auftreten, kann das die sowieso schon schwer getroffenen Angehörigen weiter verletzen. Sie aber aus reiner Rücksichtnahme zu schonen, verstieße gegen alle professionellen Regeln. Es ist ein Merkmal guter Polizeiarbeit, diese Widersprüche zu meistern und konsequent das ermittlungstechnisch Notwendige zu leisten, ohne dabei den Angehörigen weh zu tun oder gar neue Wunden zu schlagen.
Meine Mutter erhielt die Nachricht am Abend des 9. September. Nach einem normalen, arbeitsreichen Samstag – sie hatte selber bis halb sieben an ihrem Stand bei Würzburg Blumen verkauft und war erst gegen neun nach Hause gekommen –, als
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