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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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meine Mutter vor der Polizei nichts Falsches sagt, nichts ausplaudert.
    Der eine Bruder wollte für seine Schwester da sein, wollte ihr beistehen in den schlimmsten Minuten, die man sich vorstellen kann, der andere Bruder rief an aus Sorge. Das klingt wie das verständlichste Verhalten der Welt. Aber das war es nicht für die Polizei, die daraus folgerte, dass diese Menschen nur unter Verdacht stehen konnten. Dabei ließ sich zwar leicht überprüfen, wo mein Onkel Hüseyin den ganzen Tag war, er ist Taxiunternehmer, es gab Zeugen, Kunden, und auch meine Mutter war nachweislich den ganzen Tag weit weg von Nürnberg – aber die Polizei hatte eine Antwort auf diese Tatsachen: Sie malte sich wohl aus, dass meine Familie Auftragsmörder angeheuert haben könnte. Warum sind die Ermittler gleich nach den Schüssen auf meinen Vater so aufgetreten? Warum haben sie uns, die Familie, die wir gelähmt waren vom Schock, auch noch verdächtigt? Man hat uns darauf eine Antwort gegeben, Jahre später, als längst klar war, dass niemand aus der Familie sich schuldig gemacht hatte. Es war eine kalte Antwort, die sich nur auf Zahlen stützte: Statistisch gesehen, hieß es, steckt nun mal bei etlichen Morden die Familie dahinter, viele Frauen brächten ihre Männer um. Ich verstehe das bis zu einem gewissen Punkt. Ich kann akzeptieren, dass die Polizei alle Möglichkeiten prüfen musste, dass sie auch in die Familie hineinleuchtete. Aber die Art, wie sie es tat, war unerträglich, all die Verdächtigungen und Unterstellungen. Der Druck, dem sie uns aussetzte, sollte in den folgenden Wochen immer heftiger werden.

    Aber zunächst stand uns ein schwerer Gang bevor. Wir mussten meinen Vater zu Grabe tragen. Zu Hause packten wir seine Sachen zusammen, das ist so Tradition: Die Anzüge des Toten behält man, aber alles andere, Hosen, Socken, Kleider, räumt man aus dem Schrank und verschenkt es an arme Leute. Die Verwandtschaft kam nach Schlüchtern in unser Haus, viele halfen uns, denn es gibt noch andere Bräuche: Wenn jemand gestorben ist, darf man in seinem Haus nicht kochen. Das Essen bereiten die Bekannten und Verwandten zu und bringen es mit. Sie helfen im Haushalt und sorgen dafür, dass die alltäglichen Dinge ihre Ordnung behalten, man isst zusammen. Wir hatten dauernd Besuch, die ganze Familie, viele Freunde und Bekannte. Die Verwandten kümmerten sich auch um die Organisation der Beerdigung, damit meine Mutter Zeit für die Trauer fand.
    Bei uns ist es wichtig und üblich, dass viele Menschen sich zusammenfinden, wenn eine Familie einen Toten beklagt. Es ist im Schmerz ein gutes Gefühl, wenn man nicht allein ist, wenn alle da sind, einen begleiten und trauern. Bei uns stand in diesen Tagen die Haustür immer offen. Niemand musste klingeln, jeder trat einfach ein. Die Besucher saßen in allen Zimmern, Frauen lasen Suren aus dem Koran. Kerim musste mit seinen dreizehn Jahren stark sein, er versuchte, unserer Mutter beizustehen: Mama, weine nicht, sagte er immer wieder, Allah holt die, die er gern hat, früh zu sich, Mama, hör auf, wenn du weinst, tust du seiner Seele weh.
    Die Mutter meines Vaters, seine Brüder und engsten Verwandten in der Türkei wussten in diesen ersten Tagen noch nicht, dass er tot war. Meine Onkel hatten ihnen nur gesagt, dass Enver angeschossen worden sei und im Krankenhaus liege. Am Montag hatten die Ärzte die Geräte abgeschaltet, und erst am Freitag wurde der Leichnam nach der Autopsie freigegeben. Es waren furchtbare Tage. Meine Mutter und meine Onkel hatten keine Vorstellung, wie sie das alles aus der Ferne Vaters Familie beibringen sollten. Ich weiß nicht, was los gewesen wäre in dieser Woche, wenn meine Großeltern und Onkel von seiner Ermordung gewusst hätten, es wäre für sie eine Zeit äußerster, grausamster Verwirrung gewesen. Deshalb beschlossen wir, weitere Entwicklungen abzuwarten, bevor wir ihnen alles enthüllten. Wenn sie anriefen, ging ich ans Telefon. Ich musste ihnen sagen, dass es Papa den Verhältnissen entsprechend gutgehe, damit sie nicht in Panik verfielen. Meine Mutter wäre außerstande gewesen, solche Telefonate zu führen, ein Gespräch mit den Verwandten in der Türkei hätte sie zusammenbrechen lassen. Und wenn Onkel Hüseyin oder einer der anderen Erwachsenen, die jetzt im Haus waren, an den Apparat gegangen wäre, dann hätten sie sich in Salur gewundert und gleich geahnt, was los ist. Also war es an mir, dem älteren Kind, die Fragen nach meinem Vater zu

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