Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Klapptisch stehen, verkaufen und später in der Pension übernachten. Er würde den Sonntag noch dranhängen, würde am Ende alle Sträuße losgeworden sein oder auf einigen sitzenbleiben, und dann würde er heimkehren.
Das Auto hatte er schon am Abend zuvor beladen. Er musste an diesem Morgen nur noch Abschied von meiner Mutter nehmen. Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch und tranken Kaffee, sie redeten ein paar Worte, dies und das, nicht viel. Pass auf dich auf, sagte er zu ihr, bevor er gegen fünf Uhr morgens aufbrach, wie er es immer sagte, wie es sich zwischen ihnen eingespielt hatte. Und sie zu ihm: Pass auf dich auf. Ein kleines Ritual.
Pass auf dich auf.
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Drittes Kapitel
Meine Familie unter Verdacht
Der Mann hatte noch schnell Blumen kaufen wollen, in einem Laden in Nürnberg-Altenfurt, hatte das Geschäft aber geschlossen gefunden, es war nach zwei Uhr nachmittags an diesem Samstag, dem 9. September des Jahres 2000. Also fuhr er unverrichteter Dinge weiter und befand sich bereits auf dem Heimweg, als er am Straßenrand den Stand sah: Unter einem weiten, viereckigen Stoffschirm in Rot, Orange, Gelb und Lila standen etwa zwanzig Blumensträuße auf einem Klapptisch, auf dem Boden rund um den Tisch waren weitere Eimer mit Sträußen. Ein ansprechendes, mit Sorgfalt gestaltetes Arrangement. Der Mann hielt an. Neben dem Blumentisch, halb auf dem Seitenstreifen, halb schon im angrenzenden Gras, parkte ein weißer Kastenwagen. «Simsek Blumen» prangte auf der Kühlerhaube, in diagonalem Schwung nach vorne auf den Mercedesstern zulaufend, und hinten auf den Hecktüren stand «Simsek Blumen Groß- und Einzelhandel, Bahnhofstraße 1–3, 36381 Schlüchtern». Aber weit und breit war kein Verkäufer zu sehen.
Der Mann sah sich um. Der Standplatz des mobilen Blumenladens lag im Süden von Nürnberg, an der Liegnitzer Straße; sie verbindet die Ortsteile Altenfurt und Langwasser. Die Straße war hier nicht dicht bebaut, die Stelle war von Wald und Sportanlagen umgeben, idyllisch, nicht laut und doch belebt. Bis zur A9-Auffahrt waren es nur ein paar hundert Meter, es floss reger Verkehr, und bestimmt hielten regelmäßig Autofahrer, um schnell noch einen Strauß für die Verwandtschaft, die Ehefrau oder die Geliebte zu kaufen. Rundherum verliefen Spazier- und Radwege, die Laufkundschaft verhießen, Flaneure, Rentner, Leute, die ihren Hund ausführten. Ein weiteres Auto stand ein paar Meter entfernt, ein Pärchen saß darin und wollte gerade weiterfahren. Ja, meinten die beiden etwas unschlüssig, sie hätten auch gehalten, um Blumen zu kaufen, aber auch nach zehn Minuten noch keinen Verkäufer gesehen. Sie fuhren schließlich davon.
Der Mann wartete eine Viertelstunde. Ein offener Stand, ein nicht abgeschlossener Wagen und kein Mensch weit und breit, das war seltsam. Jeder könnte hier einfach etwas mitnehmen. Gegen Viertel nach drei rief er die Polizei an, fünf Minuten später war die Streife aus Langwasser vor Ort. Die Beamten hörten zu – niemand da, aha, seltsam, mal sehen – und warfen einen Blick in das leere Führerhaus des Mercedes Sprinter. Ein Essenskorb mit Vesper. Bananen, Streichkäse. Eine Kaffeekanne. Eine Plastiktüte mit Münzgeld, zum Wechseln wohl.
Ein Polizist versuchte, die seitliche Schiebetür des Kastenwagens zu öffnen. Sie klemmte, bewegte sich nach einem kräftigen Ruck dann doch und gab den Blick frei in den Laderaum: Zwischen Töpfen, Körben, Kisten und Eimern, zwischen gebundenen Sträußen und losen Schnittblumen, zwischen Rosen und Gerbera und Schleierkraut, die zum Teil noch ordentlich auf Regalböden standen, zum Teil herabgerissen und halb zertreten waren, lag auf dem gerippten Metallboden ein Mensch in einer Blutlache. An der Wand waren Blutspritzer. Er lag auf dem Rücken, der Kopf blutüberströmt, das Gesicht verschwollen. Er lebte, aber er war nicht ansprechbar. Was sich hier abgespielt hatte, war völlig unklar.
Er sei Rettungsassistent, sagte der Mann, der die Polizei alarmiert hatte. Der Sanitäter begann, den Liegenden vorsichtig zu untersuchen. Der Puls war kräftig, aber die Atmung klang besorgniserregend, ein heftiges, unregelmäßiges Röcheln. Der Sanitäter holte ein Tragetuch aus seinem Auto, damit hoben er und die Polizisten den Blutenden aus dem Kastenwagen, dann führten sie ihm einen Absaugschlauch in den Rachen. Mehr konnten sie nicht tun. Bald war der Notarzt vor Ort und diagnostizierte mehrere Schussverletzungen.
Die
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