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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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sollen, als er uns weinend und verzweifelt im Krankenhausgarten die Nachricht überbrachte, dass die Maschinen abgeschaltet worden waren und es keine Hoffnung mehr gab.
    Die Polizei hat mit ihren Ermittlungen in Kauf genommen, das Urvertrauen in unserer Familie zu zerstören. Jenen Zusammenhalt zwischen uns, die Nähe meiner Mutter zu ihren Brüdern, die Freundschaft zwischen meinem Vater und seinen Schwagern, all das wurde beschmutzt. Es blieb zum Glück nichts davon haften. Meine Onkel wurden neben unserer Mutter für Kerim und mich die stärksten und wichtigsten Bezugspersonen nach dem Tod unseres Vaters, der ihnen wie ein Bruder war. Das Misstrauen konnte unsere Familie nicht zersetzen. Natürlich fragten wir uns, ob der Mörder jemand gewesen sein könnte, den wir kennen. Jemand aus dem weiteren Verwandtenkreis? Ein Bekannter? Jemand aus der Nachbarschaft? Einer, der bei meinem Vater Blumen gekauft oder einen seiner Stände betreut hatte? Wir fanden keinen Anhaltspunkt.
    Allerdings kam es zu Spannungen zwischen uns und den Brüdern meines Vaters in der Türkei. Das hatte mehrere Ursachen: Die beiden hatten einen Bruder verloren und wussten nicht, wie es uns in Deutschland mittlerweile erging. Und sie hatten gegenüber meiner Mutter Erwartungen. Mein Vater hatte seine Verwandten in der Türkei immer unterstützt, er hatte ihnen oft Geld gegeben. Meine Mutter konnte das jetzt nicht mehr leisten, was die Beziehungen nicht verbesserte. Der Kontakt wurde loser, von Jahr zu Jahr trafen wir uns seltener und kürzer, und ohne die Begegnungen im Urlaub gab es immer weniger, was uns verband. Es war mein Vater gewesen, der die Kontakte zwischen den Familien Simsek und Bas gehalten und regelmäßig alle zu geselligen Festen zusammengebracht hatte. Das war nun vorbei. Meine Oma hat wohl am meisten darunter gelitten. Vater war als einziger ihrer Söhne so weit fort gewesen, hatte ein Leben geführt, von dem sie wenig wusste, in einem unbekannten Land – und eines Tages wird er dort ermordet. Sie hat geweint, wann immer ich sie bei Türkeireisen traf. Immer. Ich kann mich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem sie nicht geweint hat.
    Die Falle war sorgsam aufgebaut. Sie wollten Adile Simsek und Hüseyin Bas zu Vernehmungen nach Nürnberg einbestellen, aber diesmal würden sie zuvorkommend sein. Am Anfang zumindest. Ein Polizist sollte sie mit dem Dienstfahrzeug in Schlüchtern abholen. Nach der Ankunft im Polizeiquartier konnten sie die beiden dann erst mal ins Gebet nehmen. Getrennt, in verschiedenen Zimmern, sie in dem einen Raum, ihn gleich nebenan. Bruder und Schwester wussten das, würden an den anderen denken, jeder würde für sich überlegen, was der andere wohl direkt hinter dieser Wand gerade zu Protokoll gab. Die Vernehmungsbeamten würden die beiden ordentlich unter Druck setzen, wie üblich: hier mal andeuten, dass die Polizei schon einiges wisse, da eine kleine Verdächtigung fallenlassen, wohldosiert. Nach ein paar unangenehmen Stunden würden die Polizisten die Vernehmungen beenden und Adile Simsek und Hüseyin Bas nach Hause entlassen: Danke, Sie können jetzt gehen, und übrigens, das Tatfahrzeug, der Sprinter, ist mittlerweile gesäubert, wir haben die Spuren gesichert, wir brauchen den Wagen nicht mehr. Sie dürfen ihn mitnehmen.
    Adile Simsek und Hüseyin Bas würden einsteigen, losfahren, und nun – erleichtert, weil die strapaziöse Vernehmung endlich vorbei war – würden sie reden. Es würde ihnen die Zunge lockern, dass der Druck endlich vorüber war, befreit und sicher würden sie sich fühlen. Und die Polizei würde mithören, jedes Wort. Das war der Plan, und alles dafür war seinen bürokratisch geordneten Weg gegangen: Ein Kriminalhauptkommissar stellte den korrekt formulierten Antrag auf «Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Worts» an die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, ein Staatsanwalt machte daraus einen ebenso ordentlichen Antrag ans Amtsgericht, drückte einen Stempel darauf, der besagte, dass die Sache höchst dringlich sei, ließ das Papier via Boten ins Gericht bringen, und noch am selben Tag, am 4. Oktober kurz nach zwölf, legte ein Amtsrichter die Genehmigung ins Faxgerät.
    Der Paragraph 100c des Strafgesetzbuches macht strenge Vorgaben. Zu rechtfertigen war dieser Lauschangriff nur, wenn der Verdacht bestand, dass einer der Abzuhörenden «als Täter oder Teilnehmer» eine «besonders schwere Straftat begangen» hatte, oder zumindest die Aussicht,

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