Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
zerbrochen ist.
Der Verdacht aber lag nun auf uns, blieb bei uns, schwappte über unsere Familie in mehreren Wellen. Zuerst standen meine Mutter und ihre Brüder selbst im Fokus. Ich habe keine Ahnung, ob die Polizei wirklich von ihrer Schuld ausging oder einfach immer wieder nachbohrte, um zu sehen, ob sie damit vielleicht weiterkäme. Als das nicht der Fall war, kam die Drogentheorie auf – angeblich habe mein Vater mit Rauschgift gehandelt oder es zumindest transportiert. Die «Sabah», eine türkische Tageszeitung, brachte im Oktober einen Artikel mit der Überschrift: Steckte die türkische Mafia hinter dem Mord? Dass eine türkische Zeitung das schrieb, gab mir zu denken. Die Welt war nicht schwarz-weiß, es waren nicht nur die Deutschen, die schnell mit Verdächtigungen bei der Hand waren. Auch dieser Artikel wurde in den Vernehmungen öfter thematisiert, er hat wohl auch viele Bekannte zu Mutmaßungen veranlasst. Es schien ja auf der Hand zu liegen: Woche für Woche war mein Vater nach Holland gefahren, die Hafenstadt Rotterdam gilt als Drogendrehscheibe … Bald darauf durchsuchten die Polizisten unseren Lastwagen, sie suchten nach Spuren von Opiaten, Rückständen von Kokain, Bröseln von Hasch, sie suchten nach doppelten Böden und versteckten Hohlräumen, überall, im Fahrerbereich, im Motorblock, am Unterboden. Sie suchten mit Spürhund und mit Stabkamera. Sie fanden nichts. Dennoch sollte uns der Drogenverdacht mehr als ein Jahrzehnt lang verfolgen.
Dann setzte die Polizei ein psychisches Druckmittel ein. Irgendwann erzählten sie uns, dass mein Vater noch eine zweite Familie gehabt hätte. Angeblich eine deutsche Frau – blond soll sie gewesen sein –, mit der er ebenfalls zwei Kinder hätte. Sie zeigten meiner Mutter sogar Fotos: Schauen Sie, Ihr Mann war mit dieser Frau zusammen. Auch diese bizarre Szene wiederholte sich, die Polizisten erzählten immer wieder, dass Vater andere Frauen hatte. Meine Mutter fiel darauf nicht herein, sie hat das nie geglaubt und antwortete: Wenn das stimmt, können seine anderen Kinder bei uns wohnen, und die Frau kann auch zu uns ziehen. Das sind dann auch meine Kinder, unser Haus ist ihr Haus.
Die Polizei hat wohl einfach ausgetestet, wie wir reagieren. Einer von ihnen räumte lange nach einer dieser Vernehmungen ein, dass es nur ein Versuch war, reine Taktik. Er redete meiner Mutter zu, sie solle ihren Mann genauso in Erinnerung behalten, wie sie ihn kannte. Ihnen sei es nur darum gegangen, die Möglichkeiten abzuklopfen, sie zu verunsichern, herauszufinden, ob sie, mit solchen Behauptungen konfrontiert, etwas aussagt, das den Verdacht erhärtet. Meine Mutter empfand dieses Eingeständnis als faire Geste, den Trick hatte sie längst durchschaut. Ich bewundere meine Mutter für diese Größe, ich selbst kann das bis heute nicht so gelassen sehen. Die Ermittler haben in Kauf genommen, dass meine Mutter ihre gesamte Ehe, ihren geliebten Mann in Frage stellt – ohne dass sich mein toter Vater je dagegen wehren konnte.
Meine Onkel, die ebenfalls mit Behauptungen über heimliche Liebesbeziehungen ihres Schwagers konfrontiert wurden, fragten zurück: Wann soll das gewesen sein mit der angeblichen Freundin, vor oder nach 1998? Später, sagten die Polizisten. Und meine Onkel konterten, das könne nicht sein. Nach der Mekkareise? Unmöglich.
Einer weiteren Theorie zufolge soll mein Vater in schmutzige Geschäfte verwickelt gewesen sein und Schulden nicht bezahlt haben. Selbst wenn es solche Geschäfte und Schulden gegeben hätte, kamen meiner Mutter die Schlussfolgerungen vollkommen abwegig vor. Denn hätte er sich gefährdet gefühlt, dann hätte er sich doch nicht an die Straße gestellt! Er hätte es seiner Frau gesagt, sie tauschten sich doch über alles aus, es gab nichts, was sie nicht miteinander beredeten. Und er hätte meinen Bruder und mich geschützt, hätte uns vielleicht in die Türkei gebracht, aber sicher nicht fern aller Verwandtschaft in unseren Internaten gelassen.
Für mich war immer hundertprozentig klar, dass niemand aus unserem Familienkreis in die Tat verwickelt sein konnte. Von den Ermittlungen gegen unsere nächste Verwandtschaft haben mein Bruder und ich uns nie anstecken lassen. Dass wir uns auf unsere Onkel und Tanten verlassen können, das wussten wir, sie waren es doch, die uns aufgefangen hatten, die uns halfen. Wir hatten erlebt, wie entsetzt sie selber waren nach dem Mord. Die Polizisten hätten das Gesicht meines Onkels sehen
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