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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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sich versunken war, unaufmerksam und besonders verletzlich.
    Das Brummen verstummte. Offensichtlich hatten sie angehalten. Jemand stieg aus. Stille. Jemand stieg wieder ein. Der Motor sprang an, der Lärm flutete das Mikro. Ansonsten nichts. Schweigen.
    Die Polizei, fingen sie endlich wieder an, die Polizei. Da hatte es doch immer wieder diese merkwürdigen Anzeigen gegen Enver gegeben, immer wieder hatte er Ärger am Stand gehabt, wegen Überschreitung von Verkaufszeiten oder falsch aufgestellten Werbeschildern, jedes Mal ging es um irgendeine andere lächerliche Kleinigkeit.
    Der Wagen nahm Fahrt auf, das Gespräch versank für ein paar Sekunden im Brummen und wurde dann verständlich: Könnte es sein, überlegten die beiden, dass ein überstrenger Polizist sich wieder mal wegen einer «Ordnungswidrigkeit» am Blumenstand aufgeregt, seine Dienstwaffe gezogen und Enver erschossen hatte? Nein, sagte Adile Simsek, nein. Das geht zu weit. Das kann nicht sein.
    Aber umgekehrt, sagte Hüseyin, habe die Polizei die Familie im Verdacht. Adile ging darauf nicht ein.
    Es sei so bitter, murmelte Hüseyin irgendwann, dass Enver genau jetzt gestorben sei. Wo er all die Pläne schmiedete, so viel vorhatte, sich so auf die Zukunft freute.
    Er habe wohl einen heimlichen Todfeind gehabt, sagte Adile.
    Aber nein, widersprach ihr Bruder, da hatte es doch niemanden gegeben, nie war etwas Ernsthaftes vorgefallen!
    Sicher, sagte Adile, andererseits: Die stillen Feinde seien die gefährlichsten. Die, von denen man nichts weiß. Die nicht herumlärmten und drohten, sondern einfach zuschlugen. Warum auch immer.
    Der Motor brüllte jetzt. Offenbar waren die beiden auf der Autobahn unterwegs. Wenn sie einen anderen Wagen überholten, wuchs sich das Brüllen zu einem regelrechten Lärmbeben aus.
    Vielleicht sei doch dieser Cakir in die Sache verstrickt, spekulierten sie ratlos. Die Polizei, sagte Hüseyin, habe erklärt, sie werde den Mörder finden.
    Das hoffe sie so sehr, sagte Adile. Inschallah: So Gott will.
    Diese Polizisten, murmelte sie, diese Polizisten … es sei doch erstaunlich, wie lange die arbeiten, wie viele Fragen die stellen konnten, ohne eine Essenspause zu brauchen.
    Die beiden verfielen in Schweigen. Die Lauscher waren nun allein mit dem Röhren des Fahrzeugs.
    Hatte sich der Familienverdacht damit erledigt? Nicht im Entferntesten. Ein paar Wochen später wollten die Ermittler den Sprinter wieder abhören. Diesmal allerdings gab das Mikrophon komplett den Geist auf.
    Dass sie unseren Sprinter verwanzt hatten, war nur der Anfang. In den folgenden Monaten trafen die Verdächtigungen uns mit immer größerer Wucht. Auch meinen Vater, über seinen Tod hinaus. Er hatte ein normales Leben geführt, nur an seinem Ende war nicht das Geringste normal gewesen. Die Ermittlungen infizierten sein Leben nachträglich. Es war paradox: dass er brutal ermordet worden war, verwandelte meinen Vater posthum in einen Verdächtigen.
    Jedes Detail konnte ja vielleicht eine Erklärung für seinen Tod bergen, und so wurde alles in Frage gestellt: War die Beziehung zwischen meinen Eltern stark und eng oder in Wahrheit zersetzt von Geldgier und Missgunst? Die Chrysanthemen, Rosen, Gerbera – waren das einfach Blumen und Handelsware oder eine Fassade, hinter der schmutzige Dinge versteckt wurden? Der unermüdliche Fleiß meines Vaters – trieben dunkle Geschäfte ihn an? Das Geld, das er sich erarbeitet hatte, war es in Wahrheit ergaunert? Am bittersten war für meine Familie aber, dass wir selbst unter Verdacht standen und der Polizei nicht klarmachen konnten, wie absurd das war. Einmal sagte Onkel Hursit verzweifelt zu den Beamten: «Wir sind doch verwandt!»

    Eine andere Theorie der Polizei lautete, dass ein Konkurrent im Blumengeschäft dahinterstecke. Diese Möglichkeit war für uns noch am ehesten zu verkraften, und eine Zeitlang kam sie uns in unserer Ratlosigkeit auch irgendwie einleuchtend vor. Tatsächlich gab es da ja Cakir, und zwischen ihm und meinem Vater war es öfter zu Streit gekommen, auch Drohungen wurden wohl ausgesprochen. Bald wussten die Ermittler, dass die beiden nicht gerade Freunde waren, geschäftlich wie politisch, mein Vater nationalbewusster Türke, Cakir mit seiner angeblichen Sympathie für die Kurden-Partei PKK. Wir erinnerten uns an jenen Streit am Telefon, als Cakir angeblich gesagt hatte, er wolle meinen Vater «fertigmachen». Aber sicher waren wir nicht: Hatte er wirklich genau das gesagt, in diesen Worten,

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