Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
und selbst wenn, was hatte er damit gemeint? Die Geschichte von diesem Telefonat kursierte schon länger, Verwandte erzählten sie Bekannten, die redeten mit den Nachbarn darüber, und in den Vernehmungen gab jeder seine Version zum Besten. Ja, «fertigmachen» habe er gesagt, das bestätigte eine Verwandte der Polizei. Sie hatte im Frühjahr 1999 im Lager beim Sträußebinden geholfen und war dabei gewesen, als Vater nach dem Telefonat ganz bleich aus dem Büro kam, weil sein Konkurrent ihn «fertigmachen» wolle.
Ein paar Tage später fragte ein Polizist Onkel Hüseyin, ob er eigentlich wisse, dass Cakir gedroht habe, er wolle Enver Simsek «vernichten»?
So ähnlich, antwortete Hüseyin, sein Bruder Hursit habe erzählt, Cakir wolle angeblich «Enver kaputtmachen».
Stimmt, sagte meine Mutter, als die Polizei bei ihr nachhakte, ihr Mann habe ihr von dem Telefonat erzählt und gemeint: Dieser Cakir will mich nicht leben lassen …
Fertigmachen? Vernichten? Oder gar «liquidieren», «umbringen»? Auch diese Worte raunte man mittlerweile in Friedberg und Schlüchtern, unter den Blumenhändlern und den Taxifahrern meines Onkels. In Wahrheit hatte sich damals nach dem Streit niemand viel gedacht, niemand hatte das ernst genommen. Umso mehr deuteten die Leute jetzt in diese Geschichte hinein. Bald schlug die Sache Kapriolen. Nachdem meine Mutter sich noch mal umgehört hatte, berichtete sie den Ermittlern, sie habe mit Hüseyin telefoniert, und Hüseyin habe ihr von einem Gespräch mit einem Bekannten namens Ihlas erzählt, und dieser Ihlas habe gesagt, er habe mit einem gewissen Hassan gesprochen, und dieser Hassan habe verkündet, er habe sich unlängst mit Cakir unterhalten, und Cakir habe behauptet, er habe vor etwa einem Jahr mit meinem Vater telefoniert – und in diesem Gespräch habe mein Vater erklärt, er wolle Cakir töten!
Jahre später habe ich erfahren, dass die Polizei damals Cakir in die Mangel nahm und ihn am Ende einer langen Vernehmung klipp und klar fragte, wo er war am Tag, als die Schüsse fielen. Cakir hatte ein wasserdichtes Alibi, er war in einem türkischen Sportvereinsheim, beim Kartenspielen. Im Lauf der Wochen breitete sich das Gift des Verdachts immer weiter aus, bald auch auf andere Familien. Nicht nur nähere Verwandte, auch flüchtige Bekannte wurden vernommen und unter Druck gesetzt. Nein, sagten die Blumenverkäufer, mit Schutzgelderpressungen oder sonstigen Bedrohungen hätten sie nie zu tun gehabt.
Abgesehen von einer Ausnahme, von der ich viele Jahre später erfuhr. Einer der Händler hatte der Polizei erzählt: Ein türkischer Kleinhändler sei bei Berlin von Skinheads verprügelt worden, und ein anderer Türke sei mit Brandwunden davongekommen, als die Glatzen versucht hätten, ihn mitsamt seinem Stand anzuzünden … Das fand der Vernehmungsbeamte aber uninteressant. Er wechselte das Thema und fragte weiter nach Kurdenbanden und PKK. Als die Ermittler merkten, wie viele der Türken in Schlüchtern und Friedberg über ein paar Ecken miteinander verwandt sind, wie viele aus ein und demselben Dorf Salur stammen, vermuteten sie wohl, wir würden alle unter einer Decke stecken, uns in einer Art Parallelwelt verschanzen. Denn die meisten Vernommenen sagten immer wieder das Gleiche: Mein Vater sei ein höflicher und geselliger Mann gewesen, der sich eigentlich mit jedem verstand, der vielen half, hier für die Moschee spendete, da jemanden mit einer Anschubfinanzierung für ein kleines Geschäft unterstützte. Wahrscheinlich argwöhnten die Polizisten: Wenn alle diesen Enver Simsek so loben, dann muss da ja was faul sein. Dass all diese Leute einfach deshalb nichts zur Aufklärung beitrugen, weil sie schlicht nichts wussten, diese naheliegende Möglichkeit kam der Polizei unglaubwürdig vor.
In der Familie rätselten wir, was es bedeutete, dass mein Vater mit so einer kaltblütigen Präzision und Professionalität umgebracht worden war. Fest stand damit, dass die Mörder Routine im Umgang mit Waffen hatten. Deshalb brachte Onkel Hursit in einer Vernehmung vorsichtig zum Ausdruck, dass vielleicht ein Polizist aus Nürnberg hinter der Tat stecken könnte, wegen der dauernden Schwierigkeiten mit dem Blumenstand, schließlich bestand er darauf: Nehmen Sie diesen Verdacht bitte ins Protokoll auf. Der Beamte tat es widerwillig: Das ist doch total grotesk, was Sie da von sich geben.
Natürlich war es unwahrscheinlich. Aber in einem so nebulösen Fall hätte es einfach zur
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