Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
Vom Netzwerk:
polizeilichen Pflicht der Ermittler gehört, erst mal jede auch noch so abwegige Hypothese zu überdenken – um sie dann mit Sicherheit ausschließen zu können. Stattdessen liefen die Ermittlungen eindimensional weiter: Die Polizisten durchkämmten nicht nur das persönliche, sondern auch das geschäftliche Umfeld unserer Familie. Sie riefen zum Beispiel nicht nur die Bekannten meines Onkels Hüseyin an: Dieser Herr Bas, was macht der eigentlich, was ist er für ein Typ? Könnte er ein Mörder sein? Sie hörten auch sein Telefon ab. Als er einmal mit einem deutschen Stammkunden telefonierte, der sich regelmäßig von Taxi-Bas chauffieren ließ, befragten sie auch diesen Mann: Wie wirkt Herr Bas auf Sie? Wie schätzen Sie seinen Charakter ein, trauen Sie ihm zu, jemanden umzubringen? Wie tief es meine Onkel und meine Mutter getroffen haben muss, dass man Bekannte, Verwandte, Geschäftspartner derartig ausfragte und berufliche wie private Beziehungen damit ins Zwielicht rückte, das wurde mir erst später wirklich klar. Mit meinen vierzehn Jahren war ich damals noch zu sehr mit mir selbst und meinem eigenen Schmerz beschäftigt.
    Ende November gab es eine Hausdurchsuchung. Die Polizei nahm so ziemlich alles mit, was nicht niet- und nagelfest war, Ordner, Unterlagen, Papiere. Sie stellten unsere Wohnung auf den Kopf, trugen Kartons und Kisten hinaus, geschäftliche Dokumente, Privates, Intimes, Handys, Reisepässe, Aktenkoffer, Geburtsurkunden, Schmuck, Visitenkarten, Rechnungen, einen Fotoapparat, ärztliche Atteste, Kontoauszüge, Schmierzettel, Notizhefte, Schnürsenkel, Knöpfe. Besonders schmerzlich war, dass sie mindestens ein halbes Dutzend Fotoalben mitnahmen, Urlaubsbilder, Gruppenbilder, Schnappschüsse aus Flieden, aus Schlüchtern, aus Salur. Es fühlte sich an, als wollten sie unsere Erinnerungen an ein glückliches Leben wegschleppen, alles, was unsere Familie einmal ausgemacht hatte.
    Auf den Fotoalben, die wir später zurückbekommen haben, prangt heute ein Polizeistempel. Aber die meisten unserer Bilder sind weg. Ich habe keine Ahnung wo, man hat uns nie eine richtige Auskunft gegeben. Ein paar haben wir zurückerhalten, mal dies, mal das. Aber in der jahrelangen Unordnung verloren wir den Überblick. Bis heute bekommen wir einzelne Sachen zurück. Erst letztens schickten sie uns einen Satz kroatische und holländische Münzen, die mein Vater damals zu Hause hatte. Nach zwölf Jahren.
    Sie nahmen Speichelproben, auch von uns Kindern. Vielleicht brauchten sie diese DNA-Muster, um den Spuren im Wagen nachzugehen. So versuche ich heute, mir das zu erklären. Damals war das alles einfach nur beängstigend. Und sie machten Bilder von meinen Onkeln. Frontal. Im Profil. Mit einer Nummer versehen. Wie für das Verbrecheralbum, wie im Film. Als wären das Terroristen, Leute, deren Gesichter man auf Fahndungsplakaten zeigen will. Im Laufe der Jahre haben wir uns mit dem Gedanken beruhigt, dass die Polizei nur ihre Arbeit tut, dass das alles schon irgendwie seine Richtigkeit haben wird. Dennoch war es bitter. Und wir hatten nie den Eindruck, dass irgendwer versuchte, bei alldem wenigstens rücksichtsvoll zu sein.

    Mittlerweile hing ein Nebel aus Gerüchten über Friedberg und Schlüchtern, ein Dschungel aus Mutmaßungen wucherte, wir spürten, die Leute redeten über uns, auf der Straße und am Familientisch, in der Moschee und an den Blumenständen. Keiner sagte offen etwas, die Leute tuschelten, wir hörten davon: Mein Vater war schnell erfolgreich geworden – ob das wohl mit rechten Dingen zugegangen sein mochte, was womöglich dahinterstecke? Manche, das weiß ich heute, haben ihre Vermutungen auch in Vernehmungen ausgesprochen. Die Polizei wiederum griff die Gerüchte auf, thematisierte sie in der nächsten Befragung und trug die Spekulationen so in unseren Bekannten- und Verwandtenkreis: Wisst ihr, was die Polizei mich gefragt hat …? Eine verhängnisvolle Spirale setzte sich in Gang, die Verdachtsmaschinerie kam nicht mehr zur Ruhe.
    Die abwegige Vermutung, dass mein Vater eine Geliebte gehabt haben könnte, spann die Polizei immer weiter aus. Ein besonders absurdes Beispiel: Sie vernahmen die Ehefrau eines Neffen meines Vaters, das Paar hat eine Tochter. In der Geburtsurkunde des Mädchens ist allerdings nur die Mutter eingetragen, nicht der Vater, was daran liegt, dass die beiden bei der Geburt des Kindes noch nicht verheiratet waren. Das war ihnen peinlich, deshalb verzichteten sie auf den Namen

Weitere Kostenlose Bücher