Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
des Vaters in der Urkunde. Die Polizei entdeckte das und zog ihre Schlüsse: Sind Sie sicher, fragte der Vernehmer die Frau, dass Ihr Mann der Vater dieses Kindes ist?
Ja, sagte sie, natürlich.
Wissen Sie, ob der erschossene Enver Simsek früher mal fremdging?
Davon weiß ich nicht das Geringste, antwortete sie.
Hatten Sie, fragte er nun unverblümt, ein sexuelles Verhältnis mit Enver Simsek?
Aber nein, sagte sie, Herr Simsek war für mich wie ein Onkel, fast wie ein Vater!
Es ist offensichtlich, worauf all das zielte. Die Polizei vermutete, mein Vater könne dieses Kind gezeugt haben.
Noch irrwitziger war ein anderer Vorfall, der sich bald in Friedberg herumsprach. Die Beamten besuchten eine türkische Frau, die wir überhaupt nicht kannten. Sie legten ihr Fotos mit den Gesichtern von Männern vor. Kennen Sie einen dieser Männer, fragten die Ermittler.
Nein, sagte die Frau, sie kenne keinen von denen, keinen einzigen, lauter Fremde seien das für sie.
Eines der Bilder zeigte meinen Vater, die Polizisten deuteten darauf und fragten: Kennen Sie den etwa auch nicht?
Nein, antwortete die Frau, nie gesehen.
Bestehen Sie darauf, den nicht zu kennen?
Ja, wirklich, den kenne ich nicht.
Und dann fragte der Polizist: Ist es denn nicht in Wahrheit so, dass Sie mit diesem Mann eine Affäre gehabt haben?
Nein, beteuerte die Frau, nein! Sie war noch nie in Schlüchtern gewesen, sie kannte niemand dort, geschweige denn die Familie Simsek.
Wie mag diese Frau sich gefühlt haben? Noch am selben Tag ging ihr Ehemann zur Friedberger Polizeistation und redete verzweifelt auf die diensthabende Kriminalkommissarin ein: Seine Frau, eine Affäre? Ein Missverständnis, eine Unmöglichkeit! Die Polizei sagte nichts dazu, nahm nichts zurück. Der Mann war so erschüttert, dass er sich auf der Polizeistation mehrmals übergeben musste. Mittlerweile weiß ich, wie die Polizei damals auf diese Idee kam. Ein anonymer, verleumderischer Hinweis hatte sie auf die Spur dieser armen Frau gebracht. Irgendjemand, der erklärte, er hätte da was Wichtiges. Solche Spuren gab es öfter, keine davon erwies sich als haltbar. Aber ich stelle mir vor, wie der Verdacht, den die Polizei ohne Vorwarnung in diese Ehe trug, die beiden gequält und auf die Probe gestellt haben muss. Diese Ermittlungen haben viele Leben vergiftet, nicht nur das unserer Familie.
So furchtbar es auch war, natürlich muss die Polizei jede und wirklich jede Spur verfolgen, wenn sie konsequent ermitteln will. Ich frage mich nur, warum nach all den Misserfolgen niemals Fremdenhass als Motiv in Erwägung gezogen, warum nie in diese Richtung ermittelt wurde. Stattdessen machten Gerüchte die Runde, plausible, schrille, bösartige: Enver Simsek war ein erfolgreicher Mann, vielleicht hatte er Neider, die ihn schließlich hassten? Hatte womöglich Adile Simsek ein Verhältnis mit einem anderen Mann gehabt, und Enver hat das herausgefunden und musste deshalb sterben? Auffällig kühl habe meine Mutter die Todesnachricht aufgenommen, befremdlich unberührt hätten meine Onkel gewirkt nach der Tat, nicht mal ich hätte richtig getrauert. Diese Gemeinheiten erzählte ein Blumenhändler herum, und manch anderer Mist wurde mir später zugetragen.
Diese Verdächtigungen entfalteten noch zweieinhalbtausend Kilometer entfernt ihre Wirkung. Sogar in Salur sprachen sich die Drogen- und Ehebruchsgerüchte herum, im Dorf wurde getratscht, ob bei Enver Simseks Erfolg wirklich alles sauber zugegangen sei, und wenn sogar die deutsche Polizei ihre Zweifel hat … Für die Brüder und die Eltern meines Vaters war das bitter und verletzend. Bei uns in Schlüchtern ging noch eine andere Behauptung um, der die Polizei offenkundig Glauben schenkte. Mein Vater hätte sich in seinen letzten Monaten verändert, sei auffällig in sich gekehrt gewesen, vor allem um den Muttertag 2000 herum habe sich dieser Persönlichkeitswandel gezeigt.
Das stimmte. Tatsächlich beschäftigte ihn die bevorstehende Geschäftsübergabe, er sah der Zukunft, den anstehenden Umbrüchen in seinem Leben voller Vorfreude entgegen und sicher auch mit etwas Sorge. Die Polizei leitete daraus etwas anderes ab: Warum sollte ein scheinbar so unbescholtener Mann plötzlich sein gutgehendes Geschäft loswerden wollen? Da musste etwas faul sein. Dass mein Vater das schon länger geplant, mit Verwandten und Interessenten besprochen hatte, war belanglos. Für die Polizei wollte mein Vater einfach verdammt eilig sein Unternehmen
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