Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
abstoßen und sich davonmachen. Da half es auch nichts, dass wir immer wieder erklärten, wie es wirklich war, wie einfach: Er wollte weniger arbeiten und mehr Zeit für uns haben. Man glaubte uns nicht.
Wie lange hält Vertrauen? Wie lange bleibt es unangreifbar? Wie oft muss man darauf einschlagen, bis es nachgibt, dünn wird, sich verbiegt und bricht? Wie lange widersteht das Vertrauen solchen Angriffen, und wann verwandelt es sich in Verunsicherung, Wut und Verzweiflung? Falls die Ermittler vorhatten, diese Fragen zu ergründen, war meine Mutter ihr Forschungsobjekt. Im April 2001, nach einer zermürbenden, sich über Monate hinziehenden Serie von harten, bisweilen verletzenden Befragungen, in denen sie sich so tapfer wie unbeugsam gezeigt hatte, brach sie zusammen. Allein im Oktober war sie dreimal einbestellt worden. Immer und immer wieder wurde sie befragt nach dem dunklen Punkt im Leben meines Vaters. Es müsse doch einen dunklen Punkt geben, jeder Mensch habe seinen dunklen Punkt.
Nein, sagte sie bei einer Vernehmung im Oktober. Nein. Nein! Keinen Alkohol hat er getrunken, er war nicht der Spielsucht verfallen, mit Drogen hatte er nichts zu tun. Er hat doch derart viel gearbeitet, wie hätte er denn überhaupt Zeit finden sollen für solche Laster! Und nein, sagte meine Mutter, es gab keine anderen Frauen, niemals, wir haben uns zuletzt doch wie frisch verheiratet gefühlt. Er hatte sie so gut behandelt in diesem letzten Jahr vor seinem Tod, dass sie jetzt gar nicht wisse, wozu sie ohne ihn überhaupt noch am Leben bleiben solle. Am liebsten, sagte meine Mutter, wäre sie dort, wo er nun sei.
Aus anderen Zeugenaussagen, erklärte ein Polizist, habe sich ergeben, dass Enver Simsek einmal in der Pension, in der er immer übernachtete, von einer Frau geküsst worden sei. Was habe Adile Simsek dazu vorzubringen?
Auch dadurch war meine Mutter nicht zu erschüttern. Sie kannte die Geschichte ja, oft war sie im Bekanntenkreis erzählt worden, unter großem Gelächter: Ein Blumenverkäufer hatte einen anderen ärgern wollen und eine Pensionsangestellte gebeten, den Kollegen zu umarmen und ihn so in Verlegenheit zu bringen – ein alberner Spaß, Kinderkram. Die Angestellte aber hatte die Männer verwechselt und sich Papa an den Hals gehängt.
Der Polizist, von Verdacht zu Verdacht weiterstochernd, startete die nächste Attacke: Recherchen haben ergeben, dass Sie fünfundzwanzigtausend Mark heimlich, ohne das Wissen Ihres Mannes, bei einer türkischen Bank eingezahlt und ebenso heimlich vor Enver Simseks Tod wieder abgehoben haben … Die Frage, die unausgesprochen mitklang, lag auf der Hand: War dies das Geld, mit dem Sie die gedungenen Mörder bezahlt haben?
Nein, sagte meine Mutter, nein. Sie druckste herum und enthüllte nur zögernd die Geschichte dieses Geldes, es war ihr peinlich. Sie hatte es unter der Matratze gefunden, wiedergefunden. Ein halbes Jahr zuvor, zwischen Ostern und Muttertag, war es im Betrieb derart drunter und drüber gegangen, war so viel zu erledigen gewesen, wurde so viel Bares hin und her geschoben, dass meine Eltern die Einnahmen einfach unters Bett stopften und vergaßen. Irgendwann entdeckte sie das Geld wieder, zahlte es ein und erzählte dann meinem Vater davon. Der tadelte sie: Warum hast du es bei der Bank angelegt? Du weißt doch, dass wir uns nicht an Zinsen bereichern dürfen!
Der Polizist fragte weiter: Und Sie verschweigen uns wirklich nichts? Nein, beteuerte meine Mutter, nein, wirklich nicht! Schon während sie es aussprach, spürte sie, dass er ihr nicht glaubte. Dann forderte er sie auf, eine Speichelprobe abzugeben. Natürlich war meine Mutter dazu bereit.
Am 17. November wurde sie erneut vernommen, und erneut beantwortete sie geduldig alle Fragen. Was denn da los gewesen sei in den Monaten vor dem Mord, wollte der Vernehmungsbeamte wissen, sie hätten doch immer geschuftet wie die Packesel, und auf einmal hätten sie so auffällig kürzergetreten, warum das denn?
Geld, antwortete meine Mutter, ist nicht alles. Mein Vater und sie hatten gespürt, dass es nicht ewig so weitergehen konnte, und materieller Besitz zähle nicht im Paradies. Was habe ihr Mann denn mitgenommen in jene andere Welt, außer den neun Metern Leichentuch, in die sein zerschossener Körper gewickelt war?
Wie war die Ehe, fragte der Polizist weiter, war sie wirklich gut? Und wie gut? Hatten Sie noch regelmäßig Sex? Auch diese Zumutung ertrug meine Mutter, sie beantwortete jede
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