Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
sich Zeit für mich nehmen. Havva kannte ich schon ewig, ihre Mutter hatte bei uns Blumen gebunden, und ein paarmal waren wir mit ihrer Familie in Urlaub gefahren. Sie kann wunderbar zuhören, und umgekehrt interessierte mich immer alles, was sie tat. Ich gab ihr oft Tipps in Herzensdingen – Ratschläge, an die ich mich selber oft nicht hielt. Und dann die drei Schwestern: Nadire, die älteste, ist sehr sensibel, aber sie zeigt das nicht, sie wirkt immer stark. Neslihan sagt nicht viel, aber im richtigen Moment kann sie sehr deutlich werden. Zeynep kann richtig stur sein, aber sie ist für jedes Thema offen. Mit ihr kann ich stundenlang diskutieren, über Politik, über Religion, über alles.
Am Abend unter der Woche stellte meine Mutter immer fünf Gläser bereit und wunderte sich, wenn ausnahmsweise eines unbenutzt in der Küche stehen blieb: Was ist denn hier los, fehlt da heute eine? Diese Abende und vor allem die Wochenenden mit meinen Freundinnen waren kleine Fluchten aus dem Schulalltag. Mit ihnen war es nie langweilig, wird es bis heute nicht, auch wenn wir mittlerweile leider in alle Richtungen versprengt sind und uns selten sehen. Nadire hat geheiratet und wohnt in Wiesbaden, sie ist Betriebswirtin. Neslihan absolvierte die Abendschule, lernte dort ihren jetzigen Verlobten kennen und studiert heute Architektur. Zeynep hat in Mainz International Business studiert, und Havva ist vor zweieinhalb Jahren mit ihren Eltern in die Türkei zurückgekehrt und macht dort eine schulische Ausbildung. Unsere Eltern kommen aus einfachen Verhältnissen, aber bei ihren Töchtern haben sie viel Wert auf Bildung gelegt.
In den ersten Jahren nach seinem Tod träumte ich häufig von meinem Vater. Ich sprach mit ihm bei diesen nächtlichen Begegnungen, manchmal antwortete er mir, manchmal nicht. Niemals waren es Albträume. Tagsüber verfolgten mich die Bilder aus dem Krankenhaus, wie er dalag, mit all den Schläuchen und seinen Verletzungen; oder die Szenen aus Salur, als er auf dem Bett aufgebahrt war, bevor die Männer seinen Leichnam zum Friedhof trugen und beerdigten. Aber in meinen Träumen sah ich ihn nie so, nie als Blutenden und tödlich Verwundeten, sondern immer als meinen lebendigen Vater. Manche dieser Träume sind wirr und gehorchen einer eigenen Logik, andere fühlen sich an wie echt. Und gerade in diesen Träumen war es, als besuche er mich, als wäre er wieder da. Ich erinnere mich an einen, in dem wir gemeinsam einen Ausflug machten. Ich sah sein Gesicht nicht, aber ich spürte, dass er es war. Ich fragte ihn, wer ihn umgebracht hatte, aber er antwortete nicht. Es tat weh, beim Aufwachen zu merken, dass ich nur geträumt hatte, und er fehlte mir danach umso mehr. Die Träume kamen und gingen, wurden seltener. Ich wünsche mir heute manchmal, wieder so von ihm zu träumen. Ich vermisse es, mit ihm zu reden. Ich will sein Gesicht nicht vergessen, will nicht, dass die Erinnerung verblasst. Natürlich habe ich Fotos, natürlich sehe ich ihn vor meinem inneren Auge. Aber das Lebendige fehlt. Manchmal schimpfe ich fast mit ihm, wenn ich zum Beispiel an seinem Grab stehe: Papa, warum musstest du uns verlassen? Was hast du dir dabei bloß gedacht?
Vor dem Mord war ich sehr gläubig, und ich bin es immer noch, aber anders als früher. Ich möchte nicht sündigen, aber ich muss zugeben: Durch das, was geschah, habe ich ein kleines Stück meines Glaubens verloren. Natürlich glaube ich an Gott, an Allah, auch an ein Leben nach dem Tod, und die Gebote sind mir wichtig. Man soll beten als Muslim. Aber man sollte es aus Liebe tun, nicht, weil man muss. Das Gebet soll keine leere Übung sein, sondern aus dem Inneren kommen. Das gelingt mir seither nur selten. Kerim dagegen ist sehr gläubig geworden. Er fastet im Ramadan und geht freitags in die Moschee. Für ihn hat der Glaube einen alltäglichen Stellenwert. Auch meine Mutter konnte sich nach dem Tod meines Vaters an ihrem Glauben festhalten, das bewundere ich. Vielleicht wird es bei mir irgendwann ähnlich sein. Dabei ist mir der Glaube nach wie vor wichtig, er bleibt mein moralischer Kompass. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der Ehrfurcht vor Gott hat, einen Mord begehen würde. Manchmal bin ich immer noch so wütend über das, was ich erleben musste, dass ich Gott zur Rede stelle. Womit habe ich das verdient? Womit hat mein Vater das verdient? Warum müssen wir das erdulden? Was habe ich dir getan, dass du mir so eine Strafe auflädst? Ich weiß, dass
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