Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
man so mit Gott nicht reden soll, aber diese Gedanken wühlten einfach in mir, und sie veränderten mich. Ich spreche auch anders mit Gott: Allah, ich danke dir, dass es mir wieder bessergeht, danke, dass ich so leben kann, wie ich lebe, danke, dass ich nicht krank bin. Bitte, bitte gib mir Ruhe, bitte gib mir Kraft!
Mehmet Turgut starb am 25. Februar 2004 im Rostocker Ortsteil Toitenwinkel. Er wurde mit drei Schüssen aus der Ceska in Kopf, Hals und Nacken ermordet, fünfundzwanzig Jahre wurde er alt. Er half in der Dönerbude «Mister Kebab-Grill» aus, als kurz nach zehn Uhr morgens die Todesschützen kamen.
Ismail Yasar starb am 9. Juni 2005 in Nürnberg. Er wurde mit fünf Schüssen aus der Ceska in Kopf und Oberkörper ermordet, im Alter von fünfzig Jahren. Kurz vor neun lieferte ein Bäckereifahrer Fladenbrote zu Yasars Dönerstand im Süden der Stadt. Ein Bekannter fuhr vorbei und winkte, Yasar grüßte zurück. Als gerade keine Kundschaft da war, verließ Ismail Yasar kurz die Bude und rauchte eine Zigarette. Gegen zehn kamen die Mörder und schossen ihm ins Gesicht.
Theodoros Boulgarides starb am 15. Juni 2005. Er wurde mit drei Kopfschüssen aus der Ceska ermordet, einundvierzig Jahre war er alt. Erst kurz zuvor hatte er gemeinsam mit einem deutschen Partner im Münchner Westen einen Schlüsseldienst eröffnet, einen kleinen Laden mit einem ziemlich anstrengenden Geschäftsmodell: Schlüsselservice, Notdienst, vierundzwanzig Stunden erreichbar. Der Kompagnon rief ihn an jenem 15. Juni gegen 18 Uhr 30 mehrmals an. Niemand hob ab, das war seltsam, das Telefon sollte rund um die Uhr besetzt sein. Auch auf seiner Handynummer war Boulgarides nicht zu erreichen, das Freizeichen ertönte, aber keiner ging ran. Der Kompagnon beschloss, nachzusehen. Der Laden stand offen und wirkte leer, doch als der Mann um den Tresen herumging, sah er Boulgarides auf dem Boden liegen.
Wer steckte hinter alldem? «Türken-Mafia schlug wieder zu», titelte die «Münchner Abendzeitung», «Die Welt» mutmaßte, die Mörder hätten den «Auftrag einer aus den Bergen Anatoliens heraus operierenden Bande» vollstreckt, und die «Nürnberger Zeitung» fragte: «Geht es um Drogendepots bei biederen und somit unverdächtigen Geschäftsleuten, die durchaus ein paar Euro nebenbei brauchen können?»
Im Falle Enver Simsek lässt ein polizeilicher Zwischenbericht aus dem Jahr 2004 keinen Zweifel, auf welche Richtung die Ermittler sich fokussiert hatten. Der Text umfasst sechsundfünfzig Seiten, erwähnte hier eine Dealerbande, dort eine Rauschgifthändlerorganisation, ließ ein ganzes Defilee von Drogengangstern aufmarschieren. Am Ende dieses für den internen Gebrauch bestimmten Berichts listet der Autor, ein Nürnberger Kriminalhauptkommissar, mögliche Motive auf und sortiert sie ihrer Bedeutung nach. Er beginnt mit der offenkundig abwegigen Raubabsicht und landet nach Hypothesen über eine Beziehungstat und Schutzgelderpressung am Ende bei den Drogen. Die Möglichkeit, dass Fremdenfeindlichkeit hinter alldem stecken könnte, wird in keinem Abschnitt, keinem Satz, keinem Wort erwähnt.
Vor allem die Yildirim-Spur, schrieb der Beamte, sei erfolgversprechend. Wenn man Enver Simsek als Rauschgiftkurier betrachtete, ergab sich das weitere Geschehen als logische Konsequenz: Um den Muttertag des Jahres 2000 herum veränderte sich sein Wesen, um diese Zeit versuchte er auch, das Geschäft zu verkaufen. Alles Weitere schien naheliegend: Da hatte einer Ärger bekommen mit den Leuten weiter oben in der Drogenhierarchie, war bedroht worden, hatte gespürt, wie die Luft für ihn dünn wurde, wollte aussteigen und sich davonmachen. Er hatte es nicht mehr geschafft. Ja, das ergab Sinn.
Mit der Drogentheorie ließen sich auch die anderen Fälle der Mordserie verklammern: Verschiedene Drahtzieher aus dem Milieu hatten Ärger mit Untergebenen, und um sich des Problems zu entledigen, wählten sie alle denselben, bewährten Weg, sie wandten sich an Profikiller. Wahrscheinlich waren die Auftragsmörder Türken, schrieb der Beamte, es könne sich allerdings auch um Albaner handeln.
All das waren Vermutungen aufgrund der Yildirim-Aussage. Die einzige Wahrheit zu diesem Zeitpunkt lautete: Die Ermittler hatten den angeblichen Heroinstreckmitteltransport nach mehr als drei Jahren immer noch keinem abschließenden Faktencheck unterzogen.
Es gab eine weitere Spur, die die Polizei ernst nahm. Nachdem man sich hilfesuchend an türkische Kollegen
Weitere Kostenlose Bücher