Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
an.
Allein in der Moschee in Schlüchtern, prahlte der Alte, habe er ein halbes Hundert Mitglieder gekeilt. Auch Haschischverkäufer und Heroindealer. Und dort habe er den Simsek getroffen.
Der Alte warf sich in die Brust. Ja, er sei ein Kerl gewesen, einer mit Schneid, schon immer, auch als er noch in der Türkei lebte. Stets habe er eine Waffe bei sich gehabt. Und auf Zypern, in den siebziger Jahren, im Kampf mit den Griechen, hätten sie auch getötet.
Interessant, sagte einer der Ermittler, aber wie war das noch mal mit den Hasch- und Heroindealern? Und Enver Simsek? War der auch bei der MHP?
Nein, sagte der Alte, der doch nicht.
Aber, hakte der Polizist nach, der Simsek war doch bestimmt interessant für die Grauen Wölfe. Zum Beispiel, weil er einen Lastwagen hatte. Weil er regelmäßig nach Holland fuhr. Konnte der nicht bei gewissen Geschäften helfen? Ach was, winkte der Alte ab, für Geschäfte sei Simsek doch nicht schlau genug gewesen. Geschäfte habe nur er gemacht, der Boss. Viele Geschäfte, im Auftrag der Türkei! Direkt aus Ankara gingen die Weisungen ein, zweihundert, dreihundert Mark im Monat liefen früher allein an Telefonkosten auf!
Keiner der drei Zuhörer widersprach. Das alles war elend wirres Zeug, aber vielleicht war ja doch in alldem ein Fetzen Wahrheit greifbar, irgendwo zwischen Politik, Verbrechen, Halbmond-Geschäften, Tiefem Staat.
Und schon war der Alte woanders, jetzt erzählte er von Mekkapilgern, unter denen es wirklich Fromme gab und solche, denen die Religion in Wahrheit egal war, von denen hatte er viele für seinen Verein angeworben, massenhaft Beiträge hatte er damit für die Zentrale rangeschafft, sogar eine Auszeichnung hatte er dafür erhalten: Er deutete auf ein Fähnchen hinter sich an der Wand.
Echt, fragten die Beamten, so viel Geld habe er eingetrieben?
Und der Alte, überlegen: Wenn er ins Schwitzbad gehe, dann laufe ihm auch das Wasser aus allen Poren – was er anpacke, das mache er richtig.
Zwei Stunden saßen sie nun schon hier und hörten ihn quasseln. Wenn dieses Gespräch irgendwohin führen sollte, dann musste es bald geschehen.
Einer der Polizisten fragte: Gab es Schießübungen bei den Grauen Wölfen? Lernt man da, wie man einen tödlichen Treffer setzt?
Klar gab es Tötungskommandos, raunzte der Alte. Klar, auch er habe eine Waffe gehabt, Riesenlöcher habe das Ding gemacht. Ende der sechziger Jahre, schob er stolz nach, sei er sogar türkischer Meister gewesen. Im Skifahren. Das könnten die Ermittler gerne überprüfen!
Es war jetzt schon fast ein Uhr. Drei Stunden hatten sie zugehört, wie der Mann von Grauen Wölfen, Drogen, Killertrupps faselte. Irgendwie war diese Melange aus Aufschneiderei und Geheimniskrämerei faszinierend, auch wenn man nicht wusste, ob man darüber lachen oder sich fürchten sollte. Die Frage war nur: Was von alldem war brauchbar, was war blanker Unsinn? Ein Beamter machte einen letzten Versuch. Woher kennen Sie Enver Simsek?
Ich, lobte der Alte sich, ich bin es gewesen, der Enver Simsek beibrachte, wie man Blumen zu Sträußen bindet! Mal habe er Simsek nach Holland zur Blumenbörse begleitet, mal nicht, wie es ihm gerade passte, er war ja der Boss! Und in Holland, raunte der Alte und blickte die Ermittler verschwörerisch an, in Holland könne man Rauschgift kaufen …
Vielleicht jetzt! Vielleicht kam sie jetzt endlich, die brauchbare Enthüllung über Geschäftsverbindungen, Transportwege, Komplizen, Hintergründe, Streit, das Mordmotiv …
In Holland an Rauschgift zu kommen, sagte der Alte, sei ganz einfach: Das Zeug gebe es dort in Coffeeshops.
Von den weiteren Ceska-Morden erfuhren wir hauptsächlich aus den Nachrichten, die Polizei gab uns nur noch selten Bescheid. Jeder der Fälle kam groß in den Medien, die «Bild» berichtete ebenso wie die türkischen Blätter «Hürriyet» oder «Sabah». Ich erinnere mich, wie ich einmal zufällig eine Zeitung aufschlug und las: «Die Ceska war wieder im Einsatz». Ein anderes Mal rief Onkel Hüseyin an und sagte: Habt ihr gehört, wieder ist jemand ermordet worden. Einmal machte ein Nachbar uns darauf aufmerksam. Bei jedem weiteren Mord spürte ich ein Gefühl von Zorn, Machtlosigkeit und Unverständnis. Schon wieder, kann das wahr sein? Ich las von den Betroffenen und dachte: Wieder eine Familie, die jetzt den gleichen Schmerz erlebt wie wir damals. Wieder ein paar Menschen, die ratlos sind in ihrer Trauer und sich fragen: Warum? Warum gerade er? Wieder eine
Weitere Kostenlose Bücher