Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
vollständig aufgeklärt werden. Und nach all den Jahren der Verzweiflung und der Resignation wollen wir nicht mehr tatenlos zusehen, uns nicht mehr von den Ermittlungsbehörden abfertigen lassen. Deshalb entschieden wir uns, als Nebenkläger im Prozess mitzuwirken, und suchten Anwälte, die uns vertreten werden. Wir sind nun nicht mehr nur passive Zuschauer, sondern dürfen auch Fragen und Anträge stellen und alle Beweismittel und Verfahrensakten einsehen. Die Anwälte haben uns im Umgang mit den Medien unterstützt und uns geholfen, aus der Opferrolle herauszufinden. Sie saßen bei Kerim und mir in Friedberg in der Küche, hörten uns zu, wenn all die Zweifel und die ganze Wut aus uns herausbrachen, und manchmal quatschten wir einfach miteinander über Gott und die Welt.
Im Gerichtssaal werde ich Beate Zschäpe gegenübertreten. Das wird für mich sicher ein schwieriger Moment sein, aber mein Bedürfnis nach Aufklärung ist größer als meine Angst. Ich will von ihr wissen, weshalb die Terroristen meinen Vater ausgesucht haben, und ich will sie fragen, ob sich die Mörder in all den Jahren wirklich niemals über die Familien der Opfer Gedanken gemacht haben. Diese Morde wurden nur möglich, weil es Leute gab, die hinter den dreien standen. Sie waren keine Einzeltäter, sondern wurden von einer Szene getragen. Darum ist mir wichtig, dass diese Zusammenhänge rekonstruiert und auch die Helfer der Terroristen bestraft werden. Diejenigen, die in diese Verbrechen verstrickt sind und das Trio unterstützt haben, sollen zur Verantwortung gezogen werden.
Ich weiß nicht, ob ich auf alle meine Fragen Antworten bekommen werde. Mir ist auch bewusst, dass die Zeit des Prozesses sehr hart wird und mich manche Enttäuschung erwartet. Aber wenigstens werde ich zu mir sagen können: Ich habe mein Bestes getan, ich habe dazu beigetragen, die Geschehnisse umfassend auszuleuchten und zu verhindern, dass irgendetwas vertuscht, verdrängt oder verschwiegen wird, ich bin mir und meinem Vater nichts schuldig geblieben.
Im November 2011 ist mein Alltag, nein, mein ganzes Leben zum zweiten Mal aus den Fugen geraten. Ich konnte nicht mehr zur Arbeit gehen und fühlte mich zutiefst erschöpft, die Ermattung fiel gar nicht mehr von mir ab, ich spürte sie schon morgens nach dem Aufstehen. Noch heute habe ich dieses Durcheinander nicht ganz verarbeitet und weiß manchmal nicht, wie ich es verkraften soll. Im Sportjugendhaus hatten die meisten bis zu den Enthüllungen nichts von der Geschichte meiner Familie gewusst. Ich war dort einfach Semiya – nicht die Betreuerin, deren Vater ermordet worden war. Keiner der Jugendlichen hatte jemals nach meinen Eltern gefragt, sie interessierten sich für mich und mein Leben, aber dieses Interesse galt meiner Gegenwart, nicht meiner Vergangenheit. Jetzt aber wurde meine ganze Familiengeschichte vor den Augen der Öffentlichkeit ausgebreitet. Die Jugendlichen brauchten bloß in der bei uns ausliegenden «Frankfurter Rundschau» zu blättern, in der fast täglich ein Bericht über den Mord an meinem Vater stand. Sie sprachen mich nicht darauf an, sie verhielten sich wirklich rücksichtsvoll. Dennoch fühlte ich mich unwohl und konnte meiner Arbeit nicht mehr unbefangen nachgehen. Es war unmöglich, den Berichten zu entkommen. Sobald ich eine Zeitung aufschlug, fand ich etwas über Vater; wenn ich beim Arzt im Wartezimmer saß und eine Illustrierte in die Hand nahm, stieß ich auf einen Artikel über meine Familie; schaltete ich den Fernseher ein, schaute ich meinem Vater in die Augen.
Die Medien belagerten uns regelrecht, das Telefon klingelte ununterbrochen, offenbar wusste jeder, wo wir wohnten. Scharen von Journalisten wollten uns interviewen, von der «Berliner Zeitung» bis zur «New York Times». Sie fragten, wie wir uns angesichts der Enthüllungen fühlen, wie man sich vorkommt, wenn der eigene Vater verdächtigt wird, was wir all die Jahre über gedacht haben. Schließlich änderte ich unsere Telefonnummer. Aber auch danach kamen wir nicht zur Ruhe, denn nun begannen Journalisten, am Friedberger Bahnhof wildfremde Leute auszuhorchen, die sie für Türken hielten, um sie nach unserer Adresse zu fragen. Es war verwirrend und deprimierend. Jetzt plötzlich kamen die Vertreter der Medien, um uns ihr Mitgefühl auszusprechen, klagten über den Zustand der Republik und über die allzu lange verharmloste und verdrängte Gefahr, die von den Neonazis ausgehe. Sie taten so, als hätten sie schon immer
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