Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Mann Fatih in der Türkei einkaufen ging, fragte mich ein Verkäufer, woher ich komme, und ich antwortete, dass ich in Salur wohne. Er entgegnete, mein Dialekt klinge gar nicht danach, woraufhin ich ihm erklärte, dass eigentlich Deutschland meine Heimat sei. Das sagte ich ganz spontan, ohne darüber nachzudenken, doch der Mann reagierte betroffen, regelrecht beleidigt. So etwas höre er gar nicht gern, das tue ihm im Herzen weh, ich solle doch so etwas nicht sagen – meine wahre Heimat sei doch die Türkei!
Ich sehe das anders. Meine Heimat ist Deutschland, daran konnten auch die Enthüllungen nach dem November 2011 nichts ändern. Ich habe mir seitdem allerdings sehr viel mehr Gedanken über Integration, das Fremdsein und Dazugehören gemacht als früher. Dass wir türkischen Deutschen oder deutschen Türken in Deutschland nicht von allen ohne Vorbehalt angenommen werden – gut, das war mir schon immer bewusst gewesen, aber in der Vergangenheit hatte ich darin nie ein großes Problem gesehen. Ich hatte mich nicht ausgegrenzt gefühlt, schon gar nicht angefeindet – ich hatte nur manchmal gespürt, dass wir als anders wahrgenommen werden. Sicher, die Kulturen sind in manchen Bereichen verschieden, wir haben andere Traditionen, feiern andere religiöse Feste. Dennoch stand für mich nie in Frage, dass wir zu Deutschland gehören.
Meine türkischen Wurzeln sind mir aber ebenso wichtig, auch sie sind ein Teil meiner Identität. Deshalb meine ich, die Deutschtürken sollten die doppelte Staatsbürgerschaft erhalten können, das entspricht einfach der Sowohl-als-auch-Realität, in der wir leben. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft zum Beispiel fiebern wir Deutschtürken zunächst einmal für die Türkei. Sobald die türkische Mannschaft aber ausscheidet, und das passiert leider meistens ziemlich früh, drücken wir die Daumen für Deutschland. Bei meinem Onkel Hüseyin zeigt sich diese zweifache Identität besonders deutlich: Als Chef von «Taxi-Bas» in Friedberg ist er ganz der deutschen Pünktlichkeit verpflichtet. In einer Hälfte seines Gartens pflanzt er Gemüse an – typisch türkisch. In der anderen Hälfte stehen dagegen lauter Gartenzwerge – darin ist er wieder typisch deutsch. Und die Laube, die er sich in seinen Garten gebaut hat, um dort mit Gästen zu sitzen, zu reden, zu lachen und Geschichten zu erzählen, die würde man in jedem Land der Welt gemütlich finden.
So wie Onkel Hüseyin geht es eigentlich allen Deutschtürken: Wir leben in zwei Kulturen gleichzeitig und fühlen uns in beiden zu Hause. Leider können sich andere das oft nicht richtig vorstellen. In der Türkei gelten wir häufig als Deutsche und in Deutschland als Türken. Das ist das eigentlich Typische: Wir sind Deutschtürken. Oder Türkendeutsche. Das äußert sich in unserem Umgang mit der Sprache: Wenn mir ein Wort auf Deutsch nicht einfällt, sage ich es auf Türkisch, und wenn ich auf Türkisch nicht weiterweiß, wechsle ich ins Deutsche. Manchmal beim Telefonieren springe ich mitten im Satz hin und her. So machen das viele in meiner Generation. Unsere Gehirne sind doppelt programmiert. Was mich daher besonders ärgert, ist der erhobene Zeigefinger, der uns ständig mahnt: «Ihr müsst euch integrieren.» Mein Bruder hat einmal gemeint, man könne den Satz auch mit «Ihr gehört nicht hierher» übersetzen. Und tatsächlich ist diese Forderung häufig nur eine anmaßende Leerformel. Was soll ich mir darunter auch konkret vorstellen? Soll ich etwa in die Kirche gehen, um meine Zugehörigkeit zu Deutschland zu beweisen? Oder muss ich mir die Haare blondieren? Soll ich vergessen, woher meine Eltern kommen? Wäre irgendjemandem geholfen, wenn ich die Werte meiner Familie verleugnen würde, ihren Sinn für Zusammenhalt, die Hochschätzung der Gastfreundschaft, ihre Liebe zu dem Ort, aus dem sie stammen?
Integration ist für mich im Grunde eine ganz einfache Sache. Ich bin dann integriert, wenn ich der Sprache des Landes mächtig bin, eine Schul- und Berufsausbildung habe, in der deutschen Gesellschaft eine selbständige Existenz führen kann und hier Freunde und Familie habe. Ich war immer froh, in einem Land zu leben, in dem Mann und Frau gleichberechtigt sind, in dem niemand benachteiligt werden darf, weil er aus einem fremden Land stammt, in dem jeder an seinen Gott – oder auch an keinen – glauben darf, in dem nicht nur Gesunde und Leistungsfähige etwas gelten, sondern auch Kranke, Alte, Behinderte, in dem Schwule ebenso
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