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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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wie Heterosexuelle das Recht haben, nach ihren Vorstellungen zu leben, und in dem sich niemand über das Gesetz erheben darf, auch nicht unter Berufung auf seine Religion oder Weltanschauung.
    Das Gleiche trifft auf meine Großfamilie, auf alle meine Verwandten und Bekannten zu. Wir sind aufgeschlossen und haben hier unseren Weg gemacht. Mein Cousin Bayram ist mit einundzwanzig Jahren, als einer der jüngsten Kfz-Mechaniker in Deutschland, Meister geworden. Umso ärgerlicher empfinde ich die Vorurteile, die über uns Deutschtürken im Umlauf sind. Immer wieder werden wir mit Zwangsehen und Ehrenmorden in Verbindung gebracht, dabei kenne ich diese Dinge genauso nur vom Hörensagen oder aus dem Fernsehen wie die meisten Deutschen. Natürlich gibt es so etwas, und nicht nur in anatolischen Dörfern, sondern auch in manchen türkischen Kreisen in Europa. Aber rückständige Menschen gibt es überall, und es wäre absurd, die deutsch-türkische Gegenwart darauf zu reduzieren. Wenn ich eine junge Frau in Istanbul fragen würde, ob sie sich vorstellen könne, in eine Zwangsheirat gepresst zu werden, würde sie mich auslachen und antworten: Mädchen, in welchem Zeitalter lebst du denn?
    Mich erstaunt stets aufs Neue, wie wenig die deutschen Medien vom Alltag der heutigen Türken wissen. In einer Fernsehserie wurde kürzlich eine türkische Familie in Deutschland dargestellt, in deren Wohnung es aussah wie vor fünfzig Jahren. Im Wohnzimmer hing sogar ein Wandteppich, obwohl solche Teppiche heutzutage selbst in der Türkei selten sind. Ich habe noch nie bei deutschen Türken eine derart altmodische Einrichtung gesehen wie in diesem Film. Aber wenn Fernsehleute eine türkische Familie zeigen wollen, staffieren sie die Kulisse aus, als wäre bei uns in den 1960er Jahren die Zeit stehengeblieben. Viele türkische Frauen tragen heute kein Kopftuch, auch ich nicht. In dieser Serie aber hatten ausnahmslos alle Türkinnen eins. Hätten sie einfach gezeigt, wie Türken nach der Arbeit nach Hause kommen und an der Tür ihre Schuhe ausziehen, wäre das unseren tatsächlichen Lebensgewohnheiten nähergekommen. Ich kenne keinen einzigen Türken, der in Straßenschuhen ein Haus betritt. Denn Türken haben oft Gäste, man sitzt in der Türkei auch heute noch gern traditionell auf dem Boden, und den will man natürlich sauber halten. Aber für solche Kleinigkeiten haben sich die Macher dieser Serie anscheinend nicht interessiert.
    Es hat mich auch geärgert, dass der Islam nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 unter Generalverdacht gestellt wurde. Manche Deutsche behaupteten allen Ernstes, dass der Koran den Muslimen auftrage, Christen zu töten, um in den Himmel zu kommen. Ich habe ein paarmal mit solchen Leuten diskutiert und ihnen zu vermitteln versucht, dass das grober Unsinn ist, aber ich hatte es nicht leicht, damit Gehör zu finden. Es ist schon sonderbar: Manche Christen kennen sich in der Bibel nicht halb so gut aus wie Kerim und ich. All die Geschichten von Adam über Abraham und Moses bis zu Jesus haben wir ja in unserer Kindheit von unserer Mutter vorgelesen bekommen. Aber wenn es um Terrorismus geht, meinen Leute, die nicht einmal in ihrer eigenen Religion zu Hause sind, genau zu wissen, was der Koran angeblich lehrt und fordert.
    Integration beruht auf Gegenseitigkeit. Wenn wir in Deutschland zusammenleben wollen, dann müssen wir lernen, unsere Kulturen miteinander zu teilen, gemeinsam zu essen und zu feiern. Das Wort «Integration» hat zwei Dimensionen, es geht in zwei Richtungen. Es bedeutet nicht nur, dass sich Menschen in eine fremde Gesellschaft einpassen, sondern auch, dass diese Gesellschaft bereit ist, sich zu öffnen und Fremde aufzunehmen. Wenn die eine Seite durch die Tür treten will, muss die andere Seite auch bereit sein, diese Tür aufzumachen. Man kann nur die Hand ergreifen, die einem entgegengestreckt wird. All das war für mich seit meiner Kindheit eine Selbstverständlichkeit. So gab es in Flieden beispielsweise zum Beginn des Schuljahres einen Gottesdienst, von dem wir Muslime uns freistellen lassen konnten. Kerim und ich aber sind immer mit den übrigen Klassenkameraden hingegangen. Meine Eltern haben uns nie ermahnt, an diesen Tagen früher nach Hause zu kommen, oder uns den Gang in die Kirche verboten. Ich habe dort als Kind einmal sogar eine Hostie gegessen. Man lernt sich doch nur kennen, indem man einander besucht.

    Ich hatte mich entschieden, die Rede bei der Gedenkfeier zu halten.

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