Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Neonazis leben und weitere Anschläge planen. Schließlich hat ein bestens vernetztes Umfeld die Mörder meines Vaters getragen, ihnen geholfen, Unterschlupf geboten und Waffen beschafft. Wie konnten sich die Ermittler also sicher sein, dass für Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe keine Nachfolger bereitstehen? Und wie konnte es überhaupt zu diesem monströsen Geschehen im sonst so übersichtlichen Deutschland kommen, wo die Behörden selbst die kleinsten Details regeln und mein Vater an seinem Blumenstand Wochenende für Wochenende wegen nichtiger Ordnungswidrigkeiten Ärger bekam? Deutschland war für mich immer der Inbegriff einer geordneten und funktionierenden Gesellschaft gewesen, eines intakten Staats, der seinen Bürgern zwar vielleicht manchmal zu genau auf die Finger schaut, sie aber zu schützen vermag. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass solche Gewalttäter in Deutschland so lange im Untergrund leben können, ohne dass man ihnen auf die Spur kommt. Doch die drei aus Jena hatten es dreizehn Jahre lang geschafft, sich vor den Sicherheitsbehörden zu verbergen, obwohl sie in dieser Zeit alles andere als ein ruhiges, unauffälliges Dasein fristeten.
Vor allem aber verwunderte mich, dass die Polizisten einen rechtsterroristischen Hintergrund des Mords an meinem Vater in all den Jahren verneint hatten. Wieso waren sie auf diesem Auge blind und haben ihre ganze Energie stattdessen darauf verwendet, einer absurden Drogenspur nach der anderen zu folgen? Je mehr ich über diese Frage grübelte, desto rätselhafter erschien mir die Strategie der Ermittler. Wie soll ich jetzt noch an die Fähigkeit der Polizei glauben, professionell und vorurteilslos Untersuchungen durchzuführen? Auch mit der Fähigkeit deutscher Institutionen zur Zusammenarbeit ist es nicht so weit her. Die Verantwortlichen in den einzelnen Bundesländern und Einrichtungen haben reihenweise versagt, ihre Ermittlungen waren durch Verständigungsprobleme, Unachtsamkeit und Schlampereien geprägt. Gewiss waren hier auch Eitelkeiten und Konkurrenzdenken im Spiel, doch angesichts der Entschiedenheit, mit der die Ermittler in die falsche Richtung starrten, nagt in mir das Misstrauen, ob einzelne Beamte die Ermittlungen nicht vielleicht sogar bewusst in verkehrte Bahnen lenkten.
In den Jahren vor der Enthüllung hatten wir resigniert und alle Hoffnung verloren, jemals die wahren Hintergründe der Tat zu erfahren. Nun wich unsere Enttäuschung einer völligen Verunsicherung. All die Behördenvertreter, die uns gegenüber immer aufgetreten waren, als wüssten sie genau, was sie tun, hatten uns etwas vorgegaukelt, und einige von ihnen taten dies möglicherweise nicht unabsichtlich.
Man hat mich gefragt, ob ich die Mordschützen hasse. Doch in mir ist kein Hass auf diese zwei. Genau erklären kann ich das nicht. Vielleicht verspüre ich diesen Hass nicht, weil sie tot sind und es nichts bringt, sie zu hassen, vielleicht will ich den Mördern in ihrem Hass nicht ähnlich werden, vielleicht aber geht ihr Verhalten auch einfach so weit über mein Begriffsvermögen hinaus, dass neben meiner ratlosen Verwunderung über ihr Tun überhaupt kein Raum mehr in mir bleibt für den Hass.
Es wäre für mich leichter, wenn die Mörder noch am Leben wären, ihrer Strafe entgegensehen würden und sich jeden Tag mit ihren Taten auseinandersetzen müssten. Vielleicht bekämen sie eine Ahnung davon, was sie Entsetzliches getan haben. Durch ihren Selbstmord haben sie sich aus der Verantwortung gestohlen. In der Neonaziszene werden sie dafür womöglich als Märtyrer und Helden gefeiert. Für mich sind die beiden Feiglinge. Sie sind geflüchtet, vor ihren eigenen Taten, vor ihrer Schuld. Keinem ihrer Opfer haben sie eine Chance gelassen, sie haben ahnungs- und wehrlosen Menschen ohne Vorwarnung ins Gesicht geschossen. Und als sie schließlich in der Falle saßen und merkten, dass sie sich nun für ihr Tun würden verantworten müssen, machten sie sich für immer aus dem Staub.
Bald nach dem Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos zeichnete sich ab, dass es zu einem Prozess gegen Beate Zschäpe kommen wird. Kerim und ich sprechen oft darüber, auch mit unserer Mutter. Zwar haben uns die schlimmen Erfahrungen mit den deutschen Behörden skeptisch gemacht, ob sie die Tat wirklich aufarbeiten können oder wollen, dennoch sind wir überzeugt, dass dieser Prozess wichtig ist. Wir wünschen uns, dass der Mord an meinem Vater und die Hintergründe dieses Verbrechens endlich
Weitere Kostenlose Bücher