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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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diesen Jahren zu einer tödlichen Mischung. Die drei hatten sich immer stärker radikalisiert und mit ihrer Flucht in den Untergrund die letzte Brücke hinter sich abgebrochen. Eine Umkehr war kaum mehr möglich. Und sie lebten nicht einfach im Untergrund, sie wüteten. In den Jahren der Illegalität überfielen sie vierzehn Banken, allein siebenmal schlugen sie in Chemnitz zu, dreimal in Zwickau, sie ermordeten acht Türken und einen Griechen. Höchstwahrscheinlich waren sie es, die am 25. April 2007 in Heilbronn eine zweiundzwanzig Jahre junge Polizistin namens Michelle Kiesewetter per Kopfschuss töteten und auf die gleiche Weise versuchten, auch Kiesewetters Kollegen umzubringen, wie durch ein Wunder überlebte der. Sie lösten am 19. Januar 2001 in einem von einer iranischen Familie geführten Laden in der Kölner Probsteigasse eine Explosion aus, durch die eine junge Frau schwere Gesichtsverbrennungen erlitt, und am 9. Juni 2004 verletzten sie in der Köln-Mülheimer Keupstraße zweiundzwanzig Menschen mit einer ferngezündeten Bombe.
    In der Keupstraße hatten sich seit den sechziger Jahren, als die ersten Gastarbeiter in einer nahen Fabrik anheuerten, viele Türken niedergelassen. Mit den Jahren hatten sich immer mehr Zuwanderer selbständig gemacht – hier eröffnete ein türkischer «Kuaför» seinen Friseursalon, da kam ein türkischer Obsthändler hinzu, dort eine türkische Fahrschule oder ein Imbiss. Die auf einem Fahrrad vor einem Laden deponierte Bombe enthielt kiloweise Tischlernägel. Die Detonation verwandelte die Nägel in Geschosse, die in alle Richtungen flogen und Wände, Autos, Menschen trafen. Bereits am Tag nach der Explosion vermuteten Anwohner einen fremdenfeindlichen Anschlag, der damalige Innenminister Otto Schily aber wollte davon nichts wissen und schloss ein rechtsextremes Tatmotiv kategorisch aus. Stattdessen suchten Politik und Medien die Täter wieder einmal im Migrantenmilieu. In der Keupstraße zeige sich, so schrieb die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», auch die Kehrseite «des farbenfrohen orientalischen Flairs, nämlich Glücksspiel, Schutzgelderpressungen, Rauschgifthandel und Machtkämpfe zwischen Türken, Kurden, Albanern, Serben und Bosniern».
    Am 4. November 2011 kam diese beispiellose Verbrechensserie an ihr Ende. Nachdem Böhnhardt und Mundlos in Eisenach erneut eine Bank überfallen und dabei einen Kunden niedergeschlagen hatten, kam ihnen die Polizei dank eines aufmerksamen Zeugen auf die Spur. Beamte umstellten das Wohnmobil, das die beiden wie üblich für ihre Taten angemietet hatten: Sie saßen in der Falle. Mundlos erschoss erst Böhnhardt und dann, nachdem er den Wagen in Brand gesteckt hatte, auch sich selbst. Zschäpe sprengte in Zwickau die gemeinsame Wohnung in die Luft und stellte sich den Behörden. Dreizehn Jahre und zweihundertzweiundachtzig Tage waren Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe unbehelligt geblieben.
    Was ich mit der Zeit über die Mörder und ihr Umfeld erfuhr, machte mich fassungslos. Von rechtsextremen Parteien wusste ich, aber mir war nicht klar gewesen, dass sich in Deutschland derartige Untergrundstrukturen entwickelt hatten. Mit den öffentlich wahrnehmbaren, im politischen Raum diskutierten Rechten hatte ich mich abgefunden, und da sich deren Wahlerfolge in Grenzen hielten, hatte ich sie nie als furchterregend empfunden. Erst jetzt ging mir auf, dass Organisationen wie die NPD nur die Oberfläche sind und darunter eine zweite, versteckte und viel gefährlichere Schicht des Rassismus existiert – gewaltbereite Zirkel, in denen sich enthemmte Leute treffen, die einander in ihrem brutalen Wahn bestärken und antreiben. Sie nennen ihre Gruppen verharmlosend «Kameradschaften», obwohl es sich dabei in Wirklichkeit doch um Hassgemeinschaften handelt. Im Gegensatz zu den Landtagsabgeordneten der NPD in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern kann man diese Menschen nicht einfach als abseitig oder als regionale Erscheinungen abtun. Ihr untergründiger Neonazismus, das dämmerte mir jetzt und ängstigte mich, ist schwerer zu fassen und unberechenbarer und doch zugleich unheimlich nahe bei uns. Diese Leute können überall sein, in Frankfurt, in Friedberg, in der Wohnung nebenan. Sie können an einer Straße in Nürnberg zuschlagen, in einem Gemüseladen in München oder in einem Kiosk in Dortmund. Vor ihrem tödlichen Hass sind wir nirgendwo sicher.
    Zwangsläufig drängte sich mir die Frage auf, ob vielleicht im Untergrund noch viel mehr

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