Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
gewusst, dass die Mordserie von Rechtsextremen verübt worden war. Warum hatte dann zuvor kaum einer darüber geschrieben? Warum hatten die meisten Journalisten stattdessen jahrelang jene Vorurteile wiedergegeben, die auch den Ermittlern den Blick vernebelt hatten? Wenn wir in unserer Ratlosigkeit schwiegen, dann hatte es in den Medien immer wieder geheißen: Diese türkische Szene kann gut dichthalten und weiß ihre dunklen Geheimnisse zu hüten.
Jetzt waren wir auf einmal keine halben Täter mehr, sondern die guten Opfer. Von allen Seiten strömten Hilfsangebote auf uns ein, sodass wir oft nicht wussten, was wir davon halten und ob wir uns freuen oder ärgern sollten. Stellen, die uns jahrelang gepiesackt hatten, schrieben uns an und wollten plötzlich die Streitereien beilegen. Etwa die Handelskammer, bei der mein Vater versichert gewesen war. Da er am Arbeitsplatz ermordet wurde, hatten wir nach seinem Tod angefragt, ob wir Versicherungsansprüche geltend machen können. Damals wurde uns die Auszahlung mit der Begründung verweigert, dass die Hintergründe des Verbrechens unklar seien. Nun kam endlich Bewegung in die Sache, und wie es derzeit aussieht, erhalten wir den Betrag, der uns völlig rechtmäßig zusteht – elf Jahre nach dem Antrag. Aus dem Finanzamt erhielten wir einen freundlichen Brief mit der Auskunft, dass unsere Steuerschulden erloschen seien. Redakteure des «Spiegel» entschuldigten sich, weil es in dem Magazin noch ein paar Monate vor dem Auffliegen der Terrorzelle geheißen hatte, die Morde seien «die Rechnung für Schulden aus kriminellen Geschäften oder die Rache an Abtrünnigen».
Es kostet uns noch immer große Kraft, mit dem völligen Wandel der Öffentlichkeit uns gegenüber umzugehen. Wir wissen nicht genau, was wir von diesem Deutschland halten sollen. Darüber zu reden fällt mir besonders schwer, denn es ist noch sehr frisch. Vielleicht können wir nach dem Prozess damit abschließen.
Die offizielle Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer, die der Bundespräsident – es war zum Zeitpunkt der Planung noch Christian Wulff – ausrichten wollte, sollte Ende Februar 2012 in Berlin stattfinden. Gamze Kubasik und ich wurden zu einem Vorbereitungstreffen eingeladen, und die Organisatoren erklärten uns, wie sie sich den Ablauf der Feier vorstellten. Der Bundespräsident sollte sprechen, auch Gamze und ich wurden gefragt, ob wir uns äußern wollen.
Eine Rede zu halten, war für mich eine ganz sonderbare Vorstellung. So etwas hatte ich noch nie gemacht. Ich wusste nicht, ob ich das wollte und konnte. Andererseits spürte ich den Impuls, meine Stimme zu erheben. Ein ähnliches Gefühl hatte Gamze und mich einige Jahre zuvor dazu gebracht, im Fernsehen darüber zu sprechen, wie einseitig die Ermittlungen in der Mordserie geführt wurden. Jetzt, im Wissen um die Wahrheit, wurde mir immer klarer, dass ich die Rede halten musste. Ich musste es tun, für meinen Vater und für meine Familie, für die anderen Opfer und deren Familien. Ich fürchtete mich anfangs vor der eigenen Courage, aber meine Verwandten und meine Anwälte bestärkten mich immer wieder, dass es richtig und wichtig wäre, wenn ich selbst das Wort ergreife. So beschloss ich, es zu wagen. Die Entscheidung zu dieser Rede zwang mich, meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Ich musste mich nicht nur mit dem neu erwachten Schmerz um meinen Vater und der Wut um das Versagen der Behörden auseinandersetzen, sondern auch mein Verhältnis zu dem Land klären, in dem ich lebte. Schon in den ersten Tagen, als die Hintergründe der Mordserie ans Licht kamen, hatte ich gespürt, wie bis dahin selbstverständliche Gewissheiten ins Wanken gerieten und mich eine Frage bedrängte, die ich mir nie zuvor gestellt hatte: Bin ich hier, wo ich geboren wurde, überhaupt zu Hause? Ist Deutschland meine Heimat?
Für meinen Vater war seine Heimat die Türkei. Er wurde dort geboren und wuchs dort auf, die Eindrücke und Erfahrungen seiner Kindheit in Salur prägten ihn, und das blieb auch so, als er später in Deutschland lebte. Für mich war das anders. Das Land meiner Kindheit, meiner Jugend, meiner ersten sechsundzwanzig Lebensjahre ist Deutschland. Die frühesten Erinnerungen, die ich in mir trage, sind Szenen aus Friedberg, wo wir wohnten, bis ich drei war, und aus Flieden, wo ich in der Katharinenstraße eine so selbstverständliche Geborgenheit erlebt habe. Nur die Ferien habe ich in Salur verbracht. Als ich einmal im letzten Jahr mit meinem
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