Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Nun musste, wollte ich all die Dinge, die mich beschäftigten, in Worte fassen – klare und einfache, komplizierte und schwierige Dinge. Meine Anwälte halfen mir dabei. Ich erzählte ihnen aus meinem Leben und beschrieb meine Gefühle, sie stellten mir Fragen, gemeinsam feilten wir am Text, arbeiteten die Nacht hindurch bis zum nächsten Morgen. Am Ende fühlte ich mich ziemlich erschöpft, aber das Manuskript war fertig. Der 23. Februar 2012 rückte näher. Ich übte meinen Auftritt immer wieder, zu Hause, bei der Arbeit. Ich trug die Rede einem Kollegen vor, Freundinnen, meinem Bruder, aber jedes Mal verhaspelte ich mich an einer anderen Stelle. Einen Tag vor der Gedenkfeier fand im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin die Generalprobe statt. Vor mir lag der riesige Raum mit den leeren Stuhlreihen. Ich sprach, aber in dem großen Saal wirkte wieder alles anders, und ich war mit meinem Versuch nicht zufrieden. Also übte ich nachts im Hotel weiter. Kerim, mein Cousin Bayram, meine Freundin Dürdane und unsere Anwälte begleiteten mich zur Gedenkfeier, meine Mutter war nach wie vor in der Türkei. Es war für sie am besten so. Sie musste sich alldem nicht aussetzen und konnte die Gedenkveranstaltung und meine Rede trotzdem in Salur am Fernseher verfolgen, da sie sowohl in Deutschland als auch in der Türkei live übertragen wurde.
Bei einem Empfang vor dem offiziellen Teil lernte ich die Bundeskanzlerin Angela Merkel kennen. Sie suchte das Gespräch mit jeder der Opferfamilien, sie hörte aufmerksam zu, als ich von unseren Erfahrungen und unserer Wut darüber erzählte, wie man mit meiner Familie umgegangen war. Frau Merkel zeigte Verständnis für uns, bemerkte aber auch sachlich, dass es für sie noch zu früh sei, die Geschehnisse abschließend zu bewerten. Man müsse die Ergebnisse des Strafverfahrens abwarten, und wenn es so weit sei, würde sie uns gern einladen und mit uns sprechen.
Zwölfhundert Personen saßen im Saal. Ich hatte noch niemals vor einem so großen Publikum gestanden, mein Herz klopfte stark, und ich hatte Angst, mich zu versprechen. Bitte, bitte gib mir Ruhe, betete ich, bitte gib mir Kraft. Und ich war froh, dass ich nicht alleine war. Gamze sollte während der Rede neben mir stehen und danach ein Gedicht vortragen. Das half. Erst sprach die Bundeskanzlerin, und sie sagte einige Sätze, über die ich sehr froh war: «Einige Opfer und ihre Angehörigen standen selbst jahrelang zu Unrecht unter Verdacht. Das ist besonders beklemmend. Dafür bitte ich Sie um Verzeihung.» Auf diese Entschuldigung hatten wir gewartet. Seit dem November 2011 waren viele Verantwortliche vor allem darauf bedacht gewesen, sich zu rechtfertigen, kaum jemand stand zu seinen Fehlern, stattdessen versuchten viele, ihre Verantwortung auf andere abzuwälzen. Deshalb war es wichtig, dass Frau Merkel diese Entschuldigung aussprach. Zugleich fragte ich mich, ob ihre Worte irgendetwas ändern würden. Was geschehen ist, lässt sich schließlich nicht rückgängig machen. Wir haben unter dem Verlust gelitten und waren elf Jahre lang demütigenden Ermittlungen ausgesetzt. Nur mit der Bitte um Verzeihung ist es nicht getan. Darum war es gut, dass nach der Rede der Bundeskanzlerin spontan Herr Yozgat das Wort ergriff, dessen Sohn Halit die Terroristen 2006 erschossen hatten. Seine Wortmeldung war im Protokoll nicht vorgesehen, aber er sagte wichtige Dinge, etwa, wie bedeutsam es für uns Angehörige ist, dass auch die Hintermänner und Helfershelfer der Mörder gefasst werden.
Als ich und Gamze dann aufs Podium gingen, überrollten mich die Gefühle. Elf Jahre hatte ich als Kind eines Drogendealers gegolten, und nun stand ich hier als die Tochter eines unschuldigen Mordopfers, zu dessen Ehren ein großes Orchester Werke von Johann Sebastian Bach und des türkischen Komponisten Cemal Resit Rey gespielt hatte. Nach all den Jahren der Verdächtigungen kam es mir unwirklich vor, auf einem Podium zu stehen, vor dem sich fast alle wichtigen Politiker und die ganze Staatsspitze Deutschlands zusammengefunden hatten, Frau Merkel, der Bundesratspräsident Horst Seehofer, der Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle, der Bundestagspräsident Norbert Lammert, der künftige Bundespräsident Joachim Gauck, Regierungsmitglieder, Ministerpräsidenten und zahlreiche Abgeordnete. Ich ging über die Bühne und trat ans Pult, stand vor einer Deutschlandfahne und blickte hinab in den festlichen Saal.
Hörst du das? Die
Weitere Kostenlose Bücher