Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
mehr Menschen erhoben sich und klatschten stehend.
Seit dem Tag, an dem Fatih und ich beschlossen hatten, uns zu verloben, stand die Frage im Raum, wo wir leben wollen. Ich wusste, dass Fatih die Türkei nicht verlassen will. Natürlich hätte ich ihn überreden können, sich Deutschland wenigstens einmal anzusehen und dann zu entscheiden, ob wir nicht zumindest darüber nachdenken können, uns in absehbarer Zeit hier eine Existenz aufzubauen. Aber ich habe es nie versucht, erst recht nicht nach den Enthüllungen vom November 2011. Von da an spürte ich immer stärker, dass ich selbst einen Neuanfang brauchte. Mir war bewusst, dass die Übersiedlung ein großer Schritt und ein massiver Einschnitt in mein bisheriges Leben sein würde. Doch genau danach sehnte ich mich. So beschloss ich, in die Türkei zu ziehen.
Das bedeutet nicht, dass ich Deutschland den Rücken kehre. Es käme mir nie in den Sinn, mich von dieser Gesellschaft und von diesem Land loszusagen. Trennen von meiner Heimat kann ich mich gar nicht, dafür bin ich hier zu tief verwurzelt. Überdies wäre es am Ende dann doch ein Sieg für die Neonazis, wenn sie mich mit ihrer perfiden, rassistischen Ideologie dazu brächten, dass ich mich von meinem Land abwende. Denn genau das hatten sie ja mit den Morden erreichen wollen: uns türkische Deutsche aus unserer Heimat zu vertreiben. Dennoch wurde mir nun immer klarer, dass ich den Abstand zu den Geschehnissen brauche. In Deutschland, wo ich ständig ausgefragt werde über das, was wir durchgemacht haben, ist die Vergangenheit allgegenwärtig – da fällt es schwer, in die Zukunft zu schauen. In der Türkei kann ich mich auf den neuen Lebensabschnitt leichter einlassen. Diesen Weg will ich mit meinem Mann gehen. Mein Gefühl sagt mir: Da wartet etwas Schönes auf mich. Und ich höre auf mein Gefühl.
Fehler. Fehler über Fehler, gründlich belegt auf fast dreihundert Seiten. Im Mai 2012 legte eine vom Freistaat Thüringen eingesetzte Gutachtergruppe ihren Abschlussbericht vor. Die unabhängige Kommission unter dem Vorsitz von Dr. Gerhard Schäfer, einem Richter des Bundesgerichtshofs im Ruhestand, war der Frage nachgegangen, was bei der Jagd der thüringischen Behörden nach dem untergetauchten Trio schiefgelaufen war. Der sogenannte Schäfer-Bericht wurde zur beklemmenden Dokumentation eines amtlichen Desasters.
Das Versagen der Ermittler, so ist in dem Dokument nachzulesen, begann schon mit den ungeschickt organisierten Garagendurchsuchungen im Januar 1998, bei denen die Polizisten entgegen der üblichen Praxis nicht alle Objekte gleichzeitig öffneten. Damit entdeckten sie die Bomben in der einen verdächtigen Garage erst, als der angehende Terrorist Uwe Böhnhardt schon hatte fliehen können. Danach setzte das Thüringische Landeskriminalamt bei der Suche nach den Untergetauchten die sogenannten Zielfahnder ein – Ermittler, die auf das Wiederauffinden verschwundener Verbrecher spezialisiert sind. Die Zielfahnder verstanden ihr Handwerk, ihre Erfolgsquote war bis dahin makellos. Weil sie allerdings keine Experten für Rechtsextremismus waren, fehlte ihnen das notwendige Wissen um die Strukturen der rechten Szene in Thüringen und die personellen Zusammenhänge im Neonazi-Geflecht. Sie kannten weder die «Kameraden» der Flüchtigen, noch deren Vertraute oder potenzielle Anlaufstellen. Über dergleichen wussten zwar die auf die rechte Szene spezialisierten Ermittler des LKA Bescheid. Aber sie und die Zielfahnder tauschten sich offenbar nicht systematisch aus. Überhaupt ließ die Systematik der Verantwortlichen in diesem Fall zu wünschen übrig: Als die Schäfer-Kommission die Aktenbestände des LKA sichtete, fand sie einen Berg von Unterlagen, fast zehntausend Seiten – die Papiere ließen jedoch keine Sortierungsprinzipien erkennen, weder chronologische noch ermittlungslogische, zum Teil stimmte nicht einmal die Seitenzählung.
Beim Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz wiederum, so bilanzierte der Schäfer-Bericht, arbeiteten die Beschaffer von Information und deren Auswerter oft aneinander vorbei. Eigentlich müssen alle Mitarbeiter ihre Erkenntnisse den Kollegen einer anderen Abteilung vorlegen, damit diese die Indizien bewerten können. Diese Arbeitsteilung soll verhindern, dass sich die Ermittler in Sackgassen verrennen. Genau das aber war in Thüringen geschehen, wo die Beschaffer aus dem Material oft ihre eigenen Folgerungen gezogen und ihre Erkenntnisse für sich behalten
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