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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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Glöckchen. Das sind die Schäfchen, die jetzt aus den Bergen runter ins Tal kommen. Das tun sie immer in der Nacht. Mein Papa erzählte gerne von sich und von seinen Träumen. Ich liebte es, ihm zuzuhören. Er saß in dieser warmen Sommernacht in unserem Garten in der Türkei und aß Kirschen. Ich setzte mich zu ihm und fragte ihn: Kannst du nicht schlafen?
Doch, Semiya, sagte er, ich möchte etwas hören. Und so lauschten wir zusammen dem Klang der Glöckchen der Schafe. Ich spürte, wie glücklich mein Vater in diesem Moment war.
Ein Jahr später war mein Vater tot. Am 9. September 2000 wurde auf meinen Vater Enver Simsek geschossen. Er starb zwei Tage später im Krankenhaus. Der erste Mord. Wir sollten keinen weiteren gemeinsamen Sommer mehr haben. Von einem Tag auf den anderen änderte sich für uns alles, für mich alles. Das alte Leben gab es nicht mehr. Mein Vater war tot. Er wurde nur achtunddreißig Jahre alt. Ich finde keine Worte dafür, wie unendlich traurig wir waren. Doch in Ruhe Abschied nehmen und trauern, das konnten wir nicht.
Die Familien, für die ich hier heute spreche, wissen, wovon ich rede. Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein. Immer lag da die Last über unserem Leben, dass vielleicht doch irgendwer aus meiner Familie, aus unserer Familie verantwortlich sein könnte für den Tod meines Vaters. Und auch den anderen Verdacht gab es noch: mein Vater ein Krimineller, ein Drogenhändler. Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittlungen genommen zu werden? Und können Sie erahnen, wie es sich für mich als Kind angefühlt hat, sowohl meinen toten Vater als auch meine ohnehin schon betroffene Mutter unter Verdacht zu sehen?
Dass all diese Vorwürfe aus der Luft gegriffen und völlig haltlos waren, das wissen wir heute. Mein Vater wurde von Neonazis ermordet. Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen? Das Gegenteil ist der Fall. In diesem Land geboren, aufgewachsen und fest verwurzelt, habe ich mir über Integration noch nie Gedanken gemacht. Heute stehe ich hier und trauere nicht nur um meinen Vater, sondern quäle mich auch mit der Frage: Bin ich in Deutschland zu Hause?
Ja, klar bin ich das. Aber wie soll ich mir dessen noch gewiss sein, wenn es Menschen gibt, die mich hier nicht haben wollen? Und die zu Mördern werden, nur weil meine Eltern aus einem fremden Land stammen? Soll ich gehen? Nein, das kann keine Lösung sein. Oder soll ich mich damit trösten, dass wahrscheinlich nur Einzelne zu solchen Taten bereit sind? Auch das kann keine Lösung sein.
In unserem Land, in meinem Land muss sich jeder frei entfalten können. Unabhängig von Nationalität, Migrationshintergrund, Hautfarbe, Religion, Behinderung, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun, als hätten wir dieses Ziel schon erreicht. Meine Damen und Herren, die Politik, die Justiz, jeder Einzelne von uns ist gefordert.
Ich habe meinen Vater verloren, wir haben unsere Familienangehörigen verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert. Wir alle gemeinsam zusammen, nur das kann die Lösung sein.
    Nach all den misslungenen Proben war es mir gelungen: Zum ersten Mal hatte ich mich nicht verhaspelt. Als ich zu sprechen begann, war ich in einer seltsamen Stimmung – angespannt und zugleich völlig auf meine Aufgabe konzentriert, ich suchte die Blicke der Zuhörer. Dann wurde es fast unwirklich still im Saal. Kaum jemand bewegte sich, außer den Fotografen, und das einzige Geräusch neben meiner Stimme war das Klicken der Kameras. Ich nahm wahr, wie vorne im Publikum eine Frau zu weinen begann. Sie schluchzte nicht, sie weinte ganz still. Aber ich konnte ihre Tränen sehen. Fast alle im Saal hörten reglos zu.
    Auf dem Podium brannten zwölf Kerzen, zehn für die von der Terrorzelle Ermordeten, eine für alle Opfer rechter Gewalt. Die letzte Kerze, erklärte Gamze, «steht für die Hoffnung auf eine Zukunft, die von mehr Zusammenhalt geprägt ist». Dann las sie ein Gedicht des türkischen Schriftstellers Nazim Hikmet vor und erläuterte, dass sich in diesem Text unser Wunsch «nach Einheit in der Vielfalt» ausdrückt:
«Leben wie ein Baum
Einzeln und frei
Und brüderlich wie ein Wald.
Das ist
Unsere Sehnsucht.»
    Zum Abschluss der Gedenkfeier, sagte Gamze, «werden wir die Kerze der Hoffnung hinaustragen». Begleitet vom Applaus gingen wir durch den Saal zum Ausgang, und immer

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