Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
dieser «Expertise» glaubte, aus den vorliegenden Fakten Folgendes herauslesen zu können: Bei allen Opfern sei eine «undurchsichtige Lebensführung» festzustellen, vermutlich hätten sie einer Gruppe angehört, die «ihren Lebensunterhalt mit illegalen Tätigkeiten» verdient. Dann sei es wohl zu Unregelmäßigkeiten in Geldangelegenheiten gekommen, die Opfer hätten gegen das «innere Gesetz», gegen den «Ehrenkodex» verstoßen. Weil aber in dieser Gruppe eine mutmaßlich «archaische Norm- und Wertestruktur mit rigiden Regeln der Status- und Machterhaltung» herrsche, seien die Abweichler ermordet worden. Da in «unserem» Kulturraum Mord tabuisiert sei, lasse sich folgern, dass der oder die Täter sich den «hiesigen» Normen und Werten nicht im Entferntesten verpflichtet fühlen. Möglicherweise kämen die Mörder aus dem «ost- bzw. südosteuropäischen Raum». «Wir» und «die da» – wir aufgeklärten Mitteleuropäer und die in altvorderen Ehrvorstellungen verhafteten, kriminellen «Südosteuropäer»: Was sich da als seriöse «Fallanalyse» präsentierte, war eher ein Pandämonium der Zerrbilder.
Es gibt also viele Antworten auf die Frage, warum die Nürnberger Ermittler in die falsche Richtung blickten. Sie selbst brachten gegenüber der Familie Simsek vor allem diese eine vor: Wären die Mörder Neonazis, hätten sie sich zu ihren Taten bekannt. Eine Gruppierung, die so viele Morde verübt und damit nicht prahlt, habe es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Schon seit längerer Zeit gab es jedoch Hinweise, dass längst nicht alle Rechtsextremen solchen Geltungsdrang verspürten. Anfang 2005 stellte der in Potsdam ansässige gemeinnützige Verein «Opferperspektive», der sich für die Opfer rechter Gewalt einsetzt, eine Untersuchung zu den über sechzig Angriffen vor, die in Brandenburg seit dem Jahr 2000 auf Imbisse von ausländischen Betreibern verübt wurden. Auffälligerweise fehlten bei einigen dieser Anschläge jegliche Nazi-Schmierereien oder ähnliche Bekennerbotschaften. Den Attentätern genügte es offenbar, wenn die Betroffenen die Botschaft verstanden: Haut ab, ihr habt hier nichts verloren! In vielen Fällen, so betonte die Initiative, halte sich deshalb das hartnäckige Vorurteil, die Ausländer selbst seien in die Taten verwickelt. «Vor allem bei Brandanschlägen, bei denen die Täter nicht gefasst wurden, wird meist unterstellt, es handele sich um die Tat eines Konkurrenten oder um einen ‹warmen Abriss›, also einen Versicherungsbetrug.»
Rechtsextremistisch motivierte Anschläge, argumentiert der Nürnberger Ermittler, hätten in der Vergangenheit immer einen anderen Zuschnitt gehabt. Die Taten hätten sich stets gegen Leute gerichtet, die kein oder wenig Geld besaßen, gegen Vietnamesen und rumänische Asylbewerber wie in Rostock oder Hoyerswerda oder gegen Türken wie in Mölln oder Solingen. Bei den Ceska-Morden lag ein vollkommen anderes Opferprofil vor. Die Täter erschossen Kleinunternehmer, die überhaupt nicht dem rassistischen und auch in manchen bürgerlichen Kreisen verbreiteten Klischee von den ausländischen «Sozialschmarotzern» entsprachen. Wieder und wieder, sagt der Ermittler, hätten sie überlegt, warum sich die Mörder ausgerechnet diese Opfergruppe vornahmen. Sie seien zu keinem Ergebnis gekommen.
Im Nachhinein liegt die Deutung auf der Hand. Weder bei den Ceska-Morden noch beim Keupstraßen-Attentat zielte die Gewalt einfach nur auf Menschen ausländischer Herkunft, vor allem zielte sie auf Menschen, die sich in Deutschland wirtschaftlich selbständig gemacht hatten, die Deutschland veränderten, weil auf ihrer Schaufensterscheibe in großen Buchstaben Özüdogru stand statt Müller und auf ihrer Lkw-Plane Simsek statt Maier, Menschen, die Deutschland bereicherten, indem sie türkisches Gemüse verkauften oder türkische Fleischspieße auf den Drehgrill steckten, Menschen, die dafür sorgten, dass Deutschland anders aussah, anders schmeckte und anders roch, die sich nicht einkapselten und abschotteten, sondern im Stadtbild wahrnehmbar wurden mit ihrer Eigenart und ihren Traditionen. Menschen, die nicht als Bittsteller auftraten, sondern unübersehbar zeigten, dass sie Teil dieser Gesellschaft sein wollten, die mit der Art, wie sie lebten, den Beweis antraten: Deutschland ist eine bunte Republik, eine multikulturelle Gesellschaft.
Für solche Menschen ist im Weltbild der Neonazis kein Platz. Mussten sie deshalb sterben? So pervers
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