Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
und krank diese Logik auch ist, sie scheint es zu treffen. Im Nachhinein wirkt die Botschaft der Ceska-Morde überdeutlich, die Nürnberger Ermittler aber konnten sie nicht lesen. Sie waren damit nicht allein. Niemand entzifferte sie rechtzeitig, kein Profiler, kein Journalist, kein Politiker.
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Sechstes Kapitel
Ein neuer Anfang
Bei all den quälenden Fragen, die seit dem November 2011 in mir wühlten, in meinem Zweifel an der Arbeit der deutschen Ermittler empfand ich es wie eine Befreiung, mit Fatih in der Türkei ein neues Leben zu planen. Im Sommer 2012 nahmen wir uns zunächst eine Wohnung in Sarkikaraagac, Fatihs Heimatstadt. Später, so beschlossen wir, werden wir dort ein Grundstück kaufen, um ein eigenes Haus zu bauen. Zunächst aber begannen wir, das Haus meines Vaters in Salur zu renovieren.
Seit ich als Kind meine Ferien dort verbracht habe, hat sich der Lebensrhythmus in Salur kaum verändert. Es ist ein Bauerndorf geblieben, umgeben von Feldern und Wiesen, durch die Staub- und Schotterwege führen, und viele Häuser werden bis heute in traditioneller Weise aus Lehm und Stroh gebaut. Auf einem Telefonmast nistet ein Storchenpaar, und Gänsefamilien überqueren wie selbstverständlich die Straße. Freitags versammeln sich die Menschen in den Moscheen zum Gebet, dann fährt kein Traktor mehr durch die Gassen, und Ruhe legt sich über den Ort, vielleicht hört man in der Ferne einen Esel schreien. Es gibt nur ein größeres Café, auf dessen Terrasse die Männer unter einem Wellblechdach sitzen, die Gebetsketten durch ihre Finger gleiten lassen oder sich unter herabbaumelnden Glühbirnen mit dem beliebten Brettspiel Okey die Zeit vertreiben. Vor dem Café erstreckt sich ein weiter Platz, halb Schotterfeld, halb Wiese, auf dem die Bauern im Halbkreis ihre Traktoren parken, wenn sie sich hier treffen.
Die Entfernung zwischen meiner einen Heimat, Deutschland, und meiner anderen, neuen, der Südtürkei, lässt sich nicht allein in Kilometern messen. Welten liegen zwischen ihnen, und nur selten begegnen sie einander. So geschah es an jenem 23. Februar 2012, als sich die Männer des Dorfes im Café versammelten, um die Fernsehübertragung der Gedenkveranstaltung in Berlin anzuschauen. Da saßen sie in der Gaststube, blickten zum Fernseher, der oben in einer Ecke auf einem Brett steht, und sahen plötzlich mich auf dem Bildschirm. Ich stand vor einer Deutschlandfahne und sprach von den Glöckchen der Schafe und den Bergen, von meinem Vater und von Salur. Das muss ihnen unwirklich vorgekommen sein. Alle, so erzählte man mir später, hätten eine Gänsehaut gehabt, kein Stuhl habe geknarrt, kein Teelöffel beim Umrühren im Glas geklirrt, ganz still sei es gewesen.
Nun lebe ich selbst nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, in dem mein Vater aufgewachsen ist. Zwar wirkt Sarkikaraagac etwas städtischer als Salur, doch die ganze Region ist sehr ländlich. Die Übersiedlung war wie eine Reise ins Unbekannte. Es ist für mich nur wenig anders als für einen Fremden, der noch nie hier war, fast alles ist ungewohnt. Es ist eine Herausforderung, aber ich habe keine Angst davor. Von Anfang an habe ich eine innere Sicherheit gespürt, die mir die Kraft gab, mich auf diese neue Umgebung einzulassen, eine Sicherheit, die ich vor allem Fatih verdanke. Wäre ich jemand anderem begegnet, hätte es mich vielleicht woandershin verschlagen. Fatih versteht sich nicht nur mit meiner Mutter wunderbar – so gut, dass es mir manchmal vorkommt, als wäre er ihr Sohn und ich die Schwiegertochter –, er weiß auch, welche Familiengeschichte durch Vaters Haus in Salur weht und was uns dieses Haus bedeutet. Gleichzeitig spürt er, wie sehr die Vergangenheit für uns gegenwärtig geblieben ist.
Im März 2012 feierten wir unsere Verlobung, kurz nach der Gedenkveranstaltung in Berlin. Die Hochzeit hatten wir für Mitte Juli angesetzt, und in der Zeit dazwischen lebte ich in den zwei Welten zugleich. Ständig pendelte ich zwischen Deutschland und der Türkei, mal verbrachte ich ein paar Wochen in meiner neuen Heimat, dann wohnte ich eine Zeitlang bei Kerim in Friedberg, weil es so viele Dinge zu ordnen gab. Der Abschied aus Deutschland fiel mir nicht leicht. Meine Onkel und Tanten, meine Cousins und meine Cousinen, meine Freundinnen und meinen Bruder habe ich schon vermisst, bevor ich überhaupt umgezogen war. In den ersten Wochen in der Türkei gab es Momente, in denen ich daran zweifelte, die richtige
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