Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Deutschland stellten Behörden zu der Zeit immer wieder Waffen sicher, Anleitungen zum Bombenbau, Strategiepapiere für den bewaffneten Untergrundkampf und Sprengstoff. Dass sich da jenseits der traditionellen Umtriebe rechtsextremer Parteien ein neuer, konspirativer Neonazismus der autonomen Kameradschaften herausbildete, war in Fachkreisen durchaus bekannt. Zudem waren rassistisch motivierte Anschläge damals kein neues Phänomen. Im September 2000 hatte der unweit der Stelle, an dem Enver Simsek erschossen wurde, in Nürnberg-Langwasser wohnende bayerische Innenminister Günther Beckstein auf einen Zeitungsausschnitt zu diesem Mord mit wachem Instinkt notiert: «In meiner Nachbarschaft! Bitte mir genau berichten: Ist ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?» Ein konkreter Ermittlungsansatz entstand daraus aber nicht.
Dann kam der 11. September 2001, und fortan galt der Islamismus als die große Bedrohung, die alle Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und das Personal der Sicherheitskräfte beanspruchte. Die Gefahr, die von religiös motivierten Fanatikern ausging, war ja keineswegs eingebildet, natürlich mussten Geheimdienste und der polizeiliche Staatsschutz sich darum kümmern. Nur verloren die Behörden dadurch die Bedrohung durch Rechtsextremisten fast völlig aus dem Blick. Noch im Vorwort zum Verfassungsschutzbericht 2010 stellte Bundesinnenminister Hans-Joachim Friedrich die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus als das drängendste Problem der inneren Sicherheit dar. Auf den «nationalen Extremismus» kam er erst im weiteren Verlauf seines Beitrags zu sprechen, beklagte sich in diesem Zusammenhang aber vor allem darüber, dass «die Zahl gewaltbereiter Linksextremisten, besonders der Autonomen, erneut angestiegen» sei. Erst an dritter Stelle folgte schließlich das Eingeständnis, auch «der deutliche Anstieg der Zahl der Neonazis» sei «besorgniserregend».
Die Medien, deren wichtigste Aufgabe eigentlich darin besteht, politische Verlautbarungen zu hinterfragen, versagten in dieser Hinsicht beinahe vollständig. Von den großen Zeitungen kam in all den Jahren kaum Kritik an der Arbeit der Ermittler in der Mordserie. Im Gegenteil, die Journalisten, immer auf der Suche nach starken Zitaten, exklusiven Informationen und Meldungen aus dem Inneren der Ermittlungsmaschinerie, griffen auch die absurdesten Thesen begierig auf und verbreiteten ungeprüft, was ihnen auf Pressekonferenzen oder bei Hintergrundgesprächen erzählt wurde. Behörden und Journalisten manövrierten sich in diesem Fall – wie in vielen anderen – in wechselseitige Abhängigkeiten. Der Informationsgeber von der Polizei muss seinen Partner bei der Presse beliefern, und der Recherchierende darf seinen Zuträger nicht schlecht aussehen lassen. Was der Journalist auf diese Weise an Insiderwissen gewinnt, verliert er zugleich an innerer Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit. Er wird anfällig dafür, exklusive Informationen und damit auch exklusive Spekulationen und Haltlosigkeiten unhinterfragt zu übernehmen.
Dass die Nürnberger Ermittler den Blick vom Organisierten Verbrechen nicht abwenden konnten und rechte Hintergründe nie ernsthaft erwogen, war zudem kein rein deutsches Problem. Die um Hilfe gebetenen Kollegen von der türkischen Polizei erwiesen sich als ebenso voreingenommen wie die deutschen Beamten. Auch sie ignorierten fremdenfeindliche Motive und bestärkten die Nürnberger, nach Kontakten der Mordopfer ins Drogenmilieu oder zum türkisch-nationalen Tiefen Staat zu suchen. Die Beamten der Operativen Fallanalyse brachten die Ermittlungen trotz mancher Hinweise, die sich im Nachhinein als richtig erwiesen, ebenfalls nicht entscheidend voran. Abgesehen davon, dass die Mitarbeiter der OFA bei vielen gestandenen Kriminalisten wegen ihrer Nähe zur Leitungsspitze der Polizei sowieso unbeliebt sind und als arrogant gelten, abgesehen davon, dass sie halb neidisch, halb spöttisch als Geisteswissenschaftler, Seelendeuter, Besserwisser und Glaskugelgucker bezeichnet werden, waren diese Analysen auch in sich widersprüchlich. Die klare Aufforderung, endlich mit voller Kraft in Richtung Fremdenfeindlichkeit zu ermitteln, lässt sich jedenfalls aus keinem einzigen Bericht der OFA herauslesen.
Im Gegenteil, zumindest der Bericht der Operativen Fallanalyse Baden-Württemberg von Anfang 2007 liest sich eher wie ein Sammelsurium krudester ethnischer Vorurteile, um nicht zu sagen: ins Rassistische spielender Klischees. Der Autor
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