Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
diese Möglichkeit auf dem Radar. Schon in der ersten Sonderkommission waren Kollegen, die auf den Bereich der politisch motivierten Straftaten spezialisiert sind.» Aber jeder Polizist, so fährt er fort, müsse nun einmal zwischen zwei grundlegend verschiedenen Dingen klar unterscheiden können: zwischen Hypothesen, Deutungen und Erklärungsmodellen für eine Tat auf der einen Seite und konkreten Spuren, Zeugenaussagen, richtungsweisenden Indizien auf der anderen Seite. Im Fall Enver Simseks habe es von Anfang an bedenkenswerte Hinweise gegeben, die einen Drogenhintergrund nahegelegt hätten, die regelmäßigen Fahrten nach Holland, die großen Mengen Bargeld, die er in den Taschen trug, und vor allem die Berichte jener Zuträger aus der Unterwelt. Die Polizisten konnten sich vor Fingerzeigen, die ins Drogenmilieu wiesen, kaum retten. Zwar waren die meisten der Informanten selbst in kriminelle Machenschaften verstrickt, und es war offensichtlich, dass sie vor allem deshalb gesprächig waren, weil sie auf Hafterleichterung, Abschiebungsschutz oder gar eine neue Existenz hofften. Dennoch habe jede dieser Geschichten genau überprüft werden müssen. Die Pflicht, jedem Hinweis nachzugehen, so absurd er im Einzelfall auch erscheinen möge, sagt der Polizist, «bindet und fesselt».
Auf der anderen Seite habe es kein belastbares Indiz für die Hypothese gegeben, dass Rechtsextremisten in die Tat verwickelt seien. Die Behörden hatten dreihunderttausend Euro Belohnung für Hinweise auf die Mörder ausgelobt und die Summe «offensiv angepriesen», doch obwohl es unter Neonazis genug zwielichtige Gestalten gibt, die ihre Gesinnung und ihre Kameraden zu verkaufen bereit sind, sofern der Lohn dafür hoch genug ist, erhielten die Nürnberger Polizisten keinen einzigen Hinweis aus diesem Milieu. «Für bestimmte Ermittlungsschritte», so erklärt der Ermittler, «braucht man erst mal einen Anfangsverdacht.» Der aber setze konkrete Spuren voraus, und ohne die wiederum habe es in diesem Fall für Durchsuchungen, Observationen oder Telefonüberwachungen in der rechten Szene «keine Rechtsgrundlage» gegeben.
Im Übrigen hätten sie alles versucht. Sie hätten eingefahrene Ermittlungsgleise verlassen und sich an zuvor nie erprobten Methoden versucht, beispielsweise eine Dönerbude betrieben und Rechnungen nicht bezahlt, in der Hoffnung, eine verbrecherische Inkassogruppe würde sich melden. «Ich steh dazu. Das war in Ordnung.» Es klingt, als lasse sich das ganze, elf Jahre lang andauernde Drama in einem Wort zusammenfassen: Pech.
Je mehr ich über die zahlreichen Fehler und Versäumnisse der deutschen Behörden bei der Suche nach den untergetauchten Neonazis aus Jena erfahre, desto mehr Fragen drängen sich mir auf, vor allem die eine, entscheidende: War der Tod meines Vaters womöglich vermeidbar? Könnte er heute noch leben, wenn Polizisten und Geheimdienstler bei der Fahndung nach dem Trio nicht von Anfang an so massiv versagt hätten? Es erschüttert mich, wie stark die thüringische Polizei die drei im Jahr 1998 unterschätzt hat. Wieso haben die Ermittler trotz der eindeutigen Hinweise nicht erkannt, dass diese kleine Gruppe an der Schwelle zum Terrorismus stand? Warum hat der thüringische Geheimdienst, der von den Plänen des Trios wusste, «Aktionen» zu starten, diese Informationen nicht an die Polizei weitergegeben? Vielleicht hätte man den dreien schon nach den ersten Banküberfällen auf die Spur kommen können, womöglich wäre ihre entsetzliche Geschichte dann zu Ende gewesen, bevor sie richtig begonnen hatte und bevor es zum Mord an meinem Vater gekommen ist.
Seit dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren ist bekannt, dass die Verfassungsschützer die rechte Szene mit einer Vielzahl von Spitzeln durchsetzt haben. Wieso werden diese V-Leute eingesetzt und bezahlt, wenn man von ihnen nichts über das Trio erfahren konnte? Es ist kaum vorstellbar, dass keiner der Informanten von diesen Taten wusste, dafür ist die rechtsextreme Szene mit ihren zahlreichen Kundgebungen, Aufmärschen, Konzerten und Sauffesten überall in Deutschland zu gut vernetzt.
Mir drängt sich der Verdacht auf, dass dieses Spitzelsystem vollkommen aus dem Ruder gelaufen ist und der rechten Szene eher nützt als schadet. Denn diese V-Leute sind ja keine Agenten des Staates, keine verdeckten Ermittler, die fest an die Demokratie und die Menschenrechte glauben und sich sozusagen nur als Neonazis verkleidet haben, um undercover Informationen zu
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