Schmerzlos: Thriller (German Edition)
leisten kann.«
»Der Mitschüler, der immer noch am nächsten zur Schule wohnt … bin ich.« Verlegenes Gelächter aus der Menge. »Und der Preis für den Klassenkameraden, der die längste Anreise zu unserem Klassentreffen hatte?«
Neben mir sagte jemand: »Oh, verdammt.«
»Eine Runde Applaus bitte. Er ist den ganzen weiten Weg von Kanada gekommen – Jesse Blackburn.«
Um zehn Uhr wurden die Ananaswürstchen durch eine Torte von den Ausmaßen eines Sofas ersetzt, auf der mit giftgrünem Zuckerguss geschrieben stand: 15. Klassentreffen Bassett Highschool. Auf der Bühne hatten sich vier meiner ehemaligen Mitschüler Elektrogitarren umgehängt, und Stace Wilkins und Bo Krause spielten zunehmend betrunkener klingende Gitarrensoli. Als sie zu Blowing in the Wind ansetzten, dessen Text irgendwie nicht mehr ganz jugendfrei wirkte, sprang Abbie auf und zerrte Wally mit sich auf die Tanzfläche.
In der Nähe des Ausgangs kämpfte Ceci gerade mit einer Staffelei, an der sie ein großes Plakat aufhängen wollte. Mein Blick wanderte an ihr vorbei und blieb dann aus irgendeinem Grund an der Frau hängen, die gerade eingetreten war.
Sie war ganz allein, und sie war offensichtlich krank. Sie wirkte so zerbrechlich wie Porzellan und bewegte sich auffallend vorsichtig, als könnte selbst die leiseste Berührung blaue Flecken bei ihr verursachen. Ihr rotbraunes Haar schimmerte in den Lichtreflexen der Diskokugel. Es war eine Perücke. Die Augen in dem unnatürlich weißen Gesicht glühten fiebrig. Erwartungsvoll sah sie sich um, doch niemand kam, um sie zu begrüßen.
Jesse wurde manchmal genauso behandelt, und es gab nicht viel, was mich noch wütender machen konnte. Ich ging quer durch den Raum auf sie zu. Wahrscheinlich würde ich herumstottern, aber das war immer noch besser, als sie einfach zu ignorieren.
Ich streckte meine Hand aus. »Evan Delaney. Tut mir leid, aber deinen Namen habe ich vergessen.«
Sie war so blass, dass ihre Haut fast durchsichtig schien. Ich konnte die blauen Adern an ihren Schläfen sehen. Ihre Hand war eiskalt.
»Hallo, Evan.«
Ich machte den Mund auf, doch aus irgendeinem Grund klebte mir die Zunge am Gaumen. Mein Blick flog zu ihrem Namensschild. Valerie Skinner.
Ihre Stimme klang rau und war schwer zu verstehen, weil sie so undeutlich sprach. Valerie wies auf ihren Kopf. »Gehirntumor. Beeinflusst das Sprechvermögen.«
»Das tut mir leid«, erwiderte ich. »Wirklich.«
»Aber natürlich tut es dir leid. Wie gefällt dir eigentlich mein neues Aussehen?« Sie drehte den Kopf und zeigte mir ihr Profil. »Die Rechnung für die Nasenkorrektur schicke ich dir noch. So viel abzunehmen hat natürlich seine Nachteile, aber wenigstens werde ich dünn sterben.«
»Du siehst …«
»Vergiss es. Und mach den Mund zu, dir hängen schon die Fliegen zwischen den Zähnen.«
Zum Glück hatte ich vorhin ein Lächeln auf mein Gesicht gepflastert, sonst hätte ich jetzt wie Munchs Der Schrei ausgesehen.
Valerie blickte sich um. »Es wird Zeit, dass ich was zu trinken bekomme und Hof halte. Das ist meine letzte Chance, diese Idioten dazu zu bringen, mir zu Füßen zu liegen.« Ihr Lächeln war trotz allem selbstbewusst. »Einmal eine Primadonna, immer eine Primadonna.«
Sie ging davon, mit den vorsichtigen Schritten einer Achtzigjährigen. Am liebsten wäre ich schnurstracks in eine katholische Kirche gerannt, um meine Sünden zu beichten.
Ceci hatte sich an mich herangeschlichen. »Ist es eigentlich ein Tumor?«, fragte sie nun.
Ich runzelte die Stirn, verärgert darüber, dass sie so unverblümt darauf zu sprechen kam. »Die Röntgenaufnahmen hab ich nicht gesehen.«
Sie verschränkte die Finger ineinander. »Ich dachte ja nur, dass er dir irgendwas erzählt hat, weil du dich den ganzen Abend mit ihm unterhalten hast.«
»Wie bitte?«
Sie deutete mit dem Kopf auf Jesse. »Der Rollstuhl – hat er Krebs?«
»Querschnittslähmung. Ein Autounfall. Aber wie kommst du denn auf die Idee, dass …?«
»Oh, gut.« Sie war sichtlich erleichtert. »Dann müssen wir nicht schon wieder einen Namen auf die Liste setzen.«
Doch sie knetete immer noch ihre Hände und starrte auf das Plakat, das sie gerade aufgehängt hatte.
Ich ging hinüber. Unter der Überschrift »Zum Gedenken an« hatte Ceci Fotos und Todesanzeigen verstorbener Mitschüler mit Reißnägeln auf das Papier geheftet. Als ich mir die Namen ansah, spürte ich ein Kribbeln in meinen Fingerspitzen.
Jesse rollte neben mich.
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