Schmerzlos: Thriller (German Edition)
komische Gefühl verstärkte sich. Irgendwas war hier faul. Ceci bewegte sich langsam in Richtung Küche. »Kelly?«
Hinter der verschütteten Milch lag etwas auf dem Boden. Es sah ein bisschen wie eine Wurstkette aus, war aber viel zu groß und schmutzig, um aus der Fleischabteilung des Supermarkts zu stammen. Ceci roch Natronlauge und noch etwas anderes, das grauenhaft stank. Sie ging weiter und warf einen Blick hinter die Küchentheke.
Dann fing sie an zu schreien.
Der Mond stand hoch am Himmel, als wir in die Stadt zurückfuhren. Kurz nach zwei Uhr hielt ich vor Hobo Joe’s, dessen Neonreklame in Form eines Landstreichers immer erleuchtet war. Lastwagenfahrer, Polizisten und Schichtarbeiter vom Stützpunkt bekamen hier rund um die Uhr einen Kaffee. Ich griff nach meiner Handtasche.
»Möchtest du einen Kaffee?«
Jesse drehte am Radio herum, das außer statischem Rauschen nicht viel empfangen wollte. »Ja, bitte. Einen großen.«
Ich stand an der Theke und zahlte unseren Kaffee, als ein Polizist an die Bar trat. Er bestellte sich ebenfalls einen Kaffee, während er das Kleingeld in der Handfläche abzählte. Ich nickte ihm zu.
»Sind Sie allein unterwegs?« Seine Lippen waren ein schmaler Strich, und in seiner Stimme lag ein harter Ton.
»Nein, mein Freund sitzt draußen im Wagen.«
Er warf einen Blick auf den Mustang, der vor dem Fenster geparkt war. Er legte ein paar Münzen auf die Theke. »Seien Sie vorsichtig.«
Ich folgte ihm nach draußen und sah, wie er zu seinem Streifenwagen ging. Jesse steckte einen Arm zum Fenster raus, winkte und rief mir etwas zu. Er zeigte auf das Radio. Ich hörte mir die Nachrichten an.
Um elf Uhr am nächsten Morgen hielten wir vor der Sporthalle des Stützpunkts, auf deren Freigelände das Picknick unseres Klassentreffens stattfinden sollte. Wir waren schon fast vollzählig. Die Stimmung war unruhig, und alle redeten durcheinander. In einer kleinen Stadt verbreiten sich schlechte Nachrichten schneller als eine Explosion.
Jesses Stimme klang merkwürdig. »Meine Abschlussklasse war zweimal so groß wie deine, aber bis jetzt sind nur zwei Leute daraus gestorben. Bei dir sind es inzwischen dreizehn. Was ist da bloß los?«
Eine überdachte Terrasse ging auf einen Spielplatz und Baseballfelder hinaus. An einem der Picknicktische fand Jesse ein Exemplar der Klassentreffen-Zeitung, die neben den üblichen Was-ich-in-der-ganzen-Zeit-gemacht-habe-Erzählungen von einigen Mitschülern auch Nachrufe enthielt. Nachdem er eine Minute lang gelesen hatte, fuhr er sich mit der Hand durchs Haar.
»Es sieht immer wie Zufall aus. Autounfall. Schwere Krankheit. Noch eine schwere Krankheit.« Er hob den Kopf. »Für was ist das denn heutzutage der Euphemismus? Krebs mit Sicherheit nicht, und Aids vermutlich auch nicht. Alkoholismus?«
»Ein paar Jahre nach dem Highschool-Abschluss? Da müsste man sich aber schon sehr ins Zeug legen.«
Zu spät. Es war mir einfach so entschlüpft. Jesses kleiner Bruder hatte mit einundzwanzig eine Entziehungskur gemacht.
»Wie wahr, wie wahr. Drogen?«, schlug er vor.
»Möglich.«
»Tod durch Naturgewalt?« Er sah mich verblüfft an.
»Eindeutig Drogen. Chad Reynolds ist in die Wüste gefahren und hat eine Überdosis Beruhigungsmittel geschluckt. Seine Leiche wurde erst einen Monat später gefunden.«
»Komplikationen bei der Entbindung.« Er runzelte die Stirn. »Das ist doch merkwürdig. Ich meine, heute, in unserer Zeit, im Westen.«
»Sharlayne habe ich gekannt. Sie war Grundschullehrerin.« Ich rieb mir meine Augen, die vor Müdigkeit brannten. »Bin gleich wieder da.«
Ich schlurfte zur Theke, um mir eine Cola zu holen. Als ich meinen Pappbecher füllte, sah ich Valerie Skinner hereinkommen.
Bei Tageslicht wirkte sie noch blasser und zerbrechlicher. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, und die Chemo-Porzellanhaut verlieh ihr ein vergeistigtes Aussehen, fast so, als würde sie aus einer anderen Epoche stammen. Das Gesicht unter der rotbraunen Perücke erinnerte mich an ein Renaissanceporträt. Sie kam auf mich zu.
»Was für ein Morgen. Sieht ganz danach aus, als hätte Kelly ein Rendezvous mit dem Sensenmann gehabt. Eigentlich wäre ich ja an der Reihe gewesen, aber sie hat sich vorgedrängelt.«
Ich atmete tief durch.
Ihre Mundwinkel zuckten. »Tut mir leid, schwarzer Humor ist nicht jedermanns Sache.«
»Nein, nicht deswegen.« Ich rieb mir wieder die müden Augen. »Können wir Vergangenes vergangen sein
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