Schmerzverliebt
alle Kinder der Straße haben uns darum beneidet.
Ich trete zum Stamm hin und streiche mit der Hand über die knorrige Rinde. Dabei berühren Brennnesseln meine bloßen Beine. Au! Schnell reibe ich Spucke auf die sich rötenden Stellen.
Dann lege ich den Kopf in den Nacken und sehe in den Wipfel des Baumes hinauf. Von dem Haus ist heute nichts mehr zu sehen, nicht mal ein rostiger Nagel, denn mein Vater hat alle wieder entfernt, »damit der Baum keinen Schaden nimmt«, und das ist gut so. Meine Eltern haben diese Bäume auch vor dem Abholzen bewahrt, damals als die Anwohner sie fällen lassen wollten, um mehr Sonne in ihren Gärten zu haben. Unsere Nachbarn haben alle furchtbar spießige Gärten mit sauber geschnittenen Rasenflächen und korrekt geharkten Beeten. Da lebt nichts mehr. Unser Garten dagegen ist verwildert, es gibt Hummeln und Schmetterlinge, Igel und Eichhörnchen und sogar einen kleinen Teich mit Libellen und Kröten. Wie eine Oase in einer Betonwüste kommt er mir vor, ein letzter Rückzugsraum für das Natürliche.
Ich nehme die Plastiktüte mit meinen nassen Sachen wieder auf und sehe zu unserem Haus hinüber. Papa rumort in seiner Gartenhütte, Benne putzt sein Fahrrad, das in der Abendsonne blitzt, und Mama tritt gerade mit einem Tablett, auf dem eine Salatschüssel und Weingläser stehen, auf die Terrasse. Idylle pur. Menschen, die ich liebe. Dennoch habe ich plötzlich Hemmungen, durch das Gartentörchen zu treten, fürchte, dass meine Mutter den anderen von meinem ungerechten Widerstand gegen das Getränke-Servieren schon erzählt hat.
»Hallo«, sage ich leise und im Vorbeihuschen.
»Wie siehst du denn aus?«, ruft meine Mutter erschrocken. »Kind, wo sind denn deine Sachen?«
»Die sind hier in der Tüte, klatschnass. Wir haben Spaß gemacht. Ich war schwimmen.«
»Schwimmen!« Benne lacht so laut, dass auch mein Vater aus der Hütte kommt, mich mustert und verständnislos den Kopf schüttelt.
»Hattest du nicht heute eigentlich Akkordeonstunde?«, fragt meine Mutter. Und ehe ich antworten kann, sagt Benne: »Übrigens hab ich vorhin über eine halbe Stunde auf dich gewartet, du wolltest doch mit zur Umweltgruppe kommen oder nicht?«
»Wir waren nicht verabredet, Benne. Nur weil ich im letzten Monat häufig dabei war, heißt das nicht, dass ich immer Zeit dafür habe.«
»Ach so, war ja nur ’ne Frage! Ich dachte, das wäre dir wichtig!«
»Schon, ja, und es tut mir auch Leid, dass du gewartet hast, aber heute Nachmittag hatte ich eben was anderes vor.«
»Und die Akkordeonstunde?«, hakt nun mein Vater nach.
»Keine Lust mehr«, erkläre ich knapp.
Er schweigt, mustert mich erneut. »Schade.«
Es klingt vorwurfsvoll und enttäuscht. Gleich wird er hinzufügen, dass sie für den Unterricht so viel Geld ausgegeben haben, dass sie doch gleich gewusst haben, dass ich es nicht durchhalten würde, dass sie schon Recht hatten, mir nicht sofort das gewünschte Klavier zu kaufen.
»Hast du dich wenigstens abgemeldet?«
»Noch nicht.«
»So.«
»Lasst das Thema jetzt!«, unterbricht uns meine Mutter und deutet auf den gedeckten Tisch. »Wir wollen essen.«
Froh über diese Ablenkung lasse ich mich sofort auf einen Stuhl fallen, greife nach einer Scheibe Brot, beiße ein Stück ab und schaufele mir Salat auf einen Teller. »Mmmh, Mama, das sieht aber lecker aus!«
»Ja?«, meine Mutter lächelt, aber mein Vater ärgert sich offensichtlich noch über mein unentschuldigtes Fehlen beim Musikunterricht.
»Wie wär’s, wenn unsere Tochter langsam mal erwachsen würde?«, sagt er über meinen Kopf hinweg zu meiner Mutter. »Ich meine, die grundlegenden Verhaltensweisen des Lebens müsste sie mittlerweile beherrschen. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass man nicht in solchen Klamotten rumläuft und mit dem Essen wartet, bis alle am Tisch sitzen!«
»Ach, komm, sei nicht so spießig!«, nimmt Benne mich in Schutz und zwinkert ihm zu. »Du hast doch in der Küche auch schon genascht.«
»Ich habe ja auch mitgeholfen, das Essen zuzubereiten, und setze mich nicht einfach faul an den gedeckten Tisch. Das ist ein großer Unterschied. Außerdem würde ich mich abmelden, wenn ich beschlossen hätte, keine Stunden mehr zu nehmen.«
»Ja! Ich meld mich ja ab!«, rufe ich aufgebracht. »Immer müsst ihr auf mir rumhacken, immer seid ihr am Meckern, dabei hab ich euch gleich gesagt: Ich will kein blödes Akkordeon, sondern ein richtiges Klavier! Aber das ist euch wieder zu teuer für
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