Schmerzverliebt
Ohrfeige. Das schmerzt kaum, ich habe zu wenig Kraft, es ist nur die Scham, die wehtut, Ohrfeigen, die gibt man nur dem Niedrigsten der Niedrigen, Mama hat mich mal geohrfeigt, zwei-, dreimal, Papa nie, der macht so was nicht, aber ich mache es, ich schlage mir ins Gesicht, noch einmal und noch einmal, bis die Wange endlich zu glühen beginnt.
Da klopft meine Mutter erneut und sagt freundlich durch die geschlossene Tür, dass noch Salat da sei, dass man mich vermisse, und als ich nicht antworte, drückt sie die Klinke herunter, um mich zu holen, aber da abgeschlossen ist, kann sie nicht hinein, also geht sie unverrichteter Dinge und enttäuscht wieder nach unten, und ich krümme mich vor schlechtem Gewissen, ich hätte das nicht tun dürfen, ich hätte antworten sollen, sie will sich vertragen und ich lenke nicht ein, ich bin böse und sie kann nichts dazu, ich hab sie so lieb und behandle sie so schlecht. Sie kommt extra wegen des Salates und ich antworte nicht – wie ich mich hasse!
Jetzt klingelt auch noch das Telefon. Ich melde mich, ohne draufzusehen. »Ja, Conny, hör mal, es tut mir Leid, ich hab ihn noch nicht gefragt, aber ich mach’s gleich, versprochen, ja?«
Auf der anderen Seite wird einen Moment geschwiegen. Dann fragt eine leise, ungläubige, fast erschrockene Stimme: »Pia?«
»Ach, Sebastian, du.« Ich putze mir eine Träne von der glühenden Wange. »Ich hab eigentlich Conny erwartet. Hör mal, kannst du mich später noch mal anrufen? Mir geht’s gerade nicht so gut.«
»Mir auch nicht.«
»Nein?«, schniefe ich. Wo sind meine Taschentücher? Ich muss mir dringend die Nase putzen.
»Pia, weinst du?«
»Ist doch egal, hat nichts mit dir zu tun. Es war … schön heute Nachmittag.«
Pause.
»Ja. Das war es. Pia, ich will dich nicht stören, ich hab nur eine Frage: Das ist also eure Handynummer, ja?«
»Ja, meine.«
»Deine?«
»Hach, was fragst du denn so blöd?« Ich will ihn eigentlich nicht anmachen, darum verkneife ich mir die Frage, woher er meine Nummer hat und wieso er mich überhaupt anruft, wenn er mich doch gerade erst gesehen hat.
»Ist nicht so wichtig. Ich erkläre dir das morgen. Pia, ich befürchte, es gibt einige Dinge, über die wir reden müssen.«
»Mann, was hab ich denn jetzt schon wieder gemacht?«, rufe ich aufgebracht. »Wenn ich das schon höre: Es gibt Dinge, über die wir reden müssen«, äffe ich ihn nach, »mit dir haben wir noch ein Hühnchen zu rupfen, Töchterchen«, das ist der Tonfall meiner Eltern, »Püppi, da gibt es einige ernste Sachverhalte, die wir mal klarstellen müssen …« Ich rede mich in Rage, Tränenbäche fluten über mein erhitztes Gesicht, mein Brustkorb droht zu zerspringen, ich muss mich kratzen, aufreißen, um nicht innerlich zu bersten.
Irgendwann habe ich keine Puste mehr. Meine Fingernägel liegen leblos auf meinen roten, mit Hautfetzen bedeckten Armen. Wenn Kriminalbeamte jetzt eine DNA-Analyse der Hautpartikel unter meinen Nägeln durchführen würden, müssten sie feststellen, dass ich Opfer und Täter in einer Person bin. Über diese Einsicht kann ich nur noch schluchzen. Sebastian sagt schon lange nichts mehr. Möglicherweise hat er längst aufgelegt. Verdenken könnte ich’s ihm nicht.
»Bist du noch dran?«, frage ich, als ich mich schließlich etwas beruhigt habe.
»Ja.«
»Das ist gut.«
»Pia, ich wusste nicht, dass es dir so schlecht geht. Ich will dich auch für nichts verantwortlich machen, das verspreche ich dir. Nur lass uns morgen mal in Ruhe miteinander reden, ja?«
Es scheint ihm wichtig zu sein. »Von mir aus«, sage ich matt.
»Ich freue mich, dich morgen zu sehen«, fügt er hinzu, aber es klingt ein wenig förmlich.
»Ja, ich mich auch.« Das klingt genau so, wie es gemeint ist: Lass mich jetzt endlich in Ruhe.
Der Linienbus quillt wie jeden Morgen über von Schülern. Als ich einsteige, bleibt mir gerade noch ein Stehplatz auf der untersten Treppenstufe. Mein Rucksack wird in der Tür eingeklemmt, die nun nicht mehr zugeht. Ich ziehe ihn rasch heraus, aber der Fahrer schafft es trotz mehrerer Versuche nicht, die Tür zu schließen. Wahrscheinlich wird der Sicherheitsabstand nicht eingehalten. Der Bus ist zu voll. Ich bin als Letzte hereingekommen und müsste eigentlich aussteigen, aber ich tue es nicht, denn erstens tut der Nachbarsjunge es auch nicht, sondern bleibt ganz locker auf der Stufe über mir stehen, so breitbeinig übrigens, dass ich nicht mehr neben ihn passe, zweitens hat Conny,
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