Schmerzverliebt
Familiennachmittag würde sowieso in einem Fiasko enden. Außerdem möchte ich für mein Casting trainieren und mich nicht für Bennes Feier schön machen.
Meine Mutter scheint meine Ablehnung zu spüren, doch je besorgter sie mich ansieht, desto sicherer bin ich, dass ich kein Kleid mit ihr kaufen möchte. Dabei habe ich solche Stadtbummel früher gern gemacht, habe mit ihr witzige Hüte und fesche Kleider ausprobiert, im Straßencafé gesessen und gelacht wie mit einer Freundin. Doch diese lockere Vertrautheit ist verloren. Jede Form von Innigkeit mit ihr scheint mir nun unmöglich, ich kann mir zum Beispiel nicht mehr vorstellen, wie ich als kleines Mädchen auf ihrem Schoß sitzen und abends einen Gutenachtkuss haben wollte. Meine Mutter umarmen? Sie küssen? Nein, auf einmal glaube ich zu wissen, dass ich das nie mehr tun werde.
»Sehr begeistert scheinst du ja nicht zu sein?«, bringt mein Vater es auf den Punkt.
Ich senke den Kopf, furche mit dem Teelöffel Muster in das bestickte Tischtuch. »Ich wollte für das Casting trainieren.«
»Naja, dann vielleicht ein anderes Mal«, sagt meine Mutter traurig, und als ich die Achseln zucke, dreht sie sich zur Seite und schnäuzt sich die Nase.
»Ein anderes Mal hat sie auch keine Lust«, setzt mein Vater nach.
Ich stehe auf. »Ich geh zu Fuß, da muss ich früher los«, erkläre ich, obwohl ich normalerweise nie zu Fuß zur Schule gehe und Papa heute außerdem zur selben Stunde Unterricht hat wie ich.
»Und tschüss«, sagt Benne gleichgültig.
»Tschüss«, antworte ich und will endlich raus, da hält mein Vater mich am Pullover fest.
»Warte mal! Von mir aus fahr nicht mit mir zur Schule! In Ordnung! Aber so geht das mit uns nicht weiter. Es ist nicht nur deine ständige Abwesenheit und deine schlechte Laune, mit der du unser Familienklima vergiftest, mich stören auch deine schlechten Leistungen in der Schule. Deine Mutter und ich haben beruflich genug um die Ohren, da muss ich mir nicht noch Sticheleien von Kollegen anhören. Du bist ganz schön abgesackt, Mädchen. Ist dir eigentlich klar, dass wir in der letzten Klassenkonferenz schon überlegt haben, dich das Schuljahr wiederholen zu lassen?«
»Und es sind ja nicht nur die schlechten Leistungen an sich, die uns solchen Kummer bereiten«, unterbricht ihn meine Mutter mit leiser Stimme und geröteten Augen. »Es ist vor allem die Tatsache, dass du nicht mit uns darüber sprichst. Du hast uns deine letzten Arbeitshefte nicht einmal gezeigt. Wir hätten gedacht, dass du mal auf uns zukommst und …«
»Du siehst ja jetzt schon wieder, was sie für ein Gesicht zieht, Anne! Deine guten Worte gehen zum einem Ohr rein und zum anderen raus. Ich kann nur wiederholen: Wenn das mit dir nicht besser wird, Püppi, müssen wir uns Maßnahmen überlegen!«
Stille. Mein Vater schnauft, meine Mutter nickt und Benne blickt verlegen aus dem Fenster.
»Was denn für Maßnahmen?«, frage ich und jedes Wort schmerzt im Hals.
Mein Vater zieht zischend die Luft ein, Mama stützt den Kopf in die Hände. Wollen sie mich abschieben? In ein Internat? Fühlen sie sich so weit weg von mir? Lieben sie mich nicht mehr? Das ertrage ich nicht!
»Kann ich jetzt gehen?«, frage ich, denn mir ist keine Antwort lieber als eine, die ich nicht hören will.
Die Straßen in unserer Siedlung tragen alle Vogelnamen, doch wenn man mal hinhorcht, hört man kein einziges Rotkehlchen und keine einzige Goldammer singen.
Etliche Lastwagen und Busse rumpeln an mir vorbei, es riecht nach Abgasen, Staub hängt in der trockenen Luft und von einer Baustelle dröhnt der Lärm eines Presslufthammers. Vor ein paar Tagen habe ich gelesen, dass unsere Vögel dabei sind, ihren Gesang zu verlernen, weil sie ihre Artgenossen wegen des ständigen Straßenlärms nicht mehr hören können. Diese Vorstellung macht mir furchtbare Angst. Irgendwann werden wir Menschen morgens ohne Vogelgezwitscher aufwachen müssen.
Mein Schulweg hat überhaupt nur eine schöne Stelle. Das ist der schmale Grünstreifen zwischen zwei Ortsteilen, hier hört für etwa hundert Meter die Bebauung auf, und für wenige Augenblicke könnte man denken, man sei auf dem Land: Es gibt eine kleine Pferdekoppel und die Straße teilt sich, der eine Weg läuft geradeaus weiter, und der andere macht eine Biegung nach rechts und führt in das Tal hinunter, in dem meine Schule liegt. Jetzt leuchtet der frisch geteerte Asphalt in der Sommermorgensonne, die mir ins Gesicht scheint, und auch der
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