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Schmerzverliebt

Schmerzverliebt

Titel: Schmerzverliebt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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einmal entschuldigen müsste, dass es noch lange nicht genug war, dass ich mich entschuldigen müsste für alles, was ich tue und was ich nicht tue, für meine ganze erbärmliche Existenz.
    In dieser Nacht habe ich einen Traum.
    Zuerst beginnt er wunderschön. Wir machen einen Spaziergang. Zu viert laufen wir durch den Wald und unterhalten uns. Sebastian und ich, Conny und Benne. Wir gehen Hand in Hand. Zwei befreundete Paare. Dann erreichen wir den Angelteich, an dem im Traum eine Wassermühle steht. Wir bewundern sie. Conny will ein Foto machen, und ich entdecke sogar meinen Lieblingsvogel, einen Eisvogel, der ins Wasser taucht und einen silbernen Fisch herausholt. Wir sind alle begeistert. Da sehen wir, wie das Mühlrad sich plötzlich zu drehen beginnt. Der Eisvogel kann nicht schnell genug vom Wasser auffliegen, er wird zermalmt und seine bunten, herausgerissenen Federn flattern uns vor die Füße.
    Wir frühstücken auf der Terrasse, es gibt Kräutertee und Müsli aus dem Bio-Laden mit roten Johannisbeeren aus dem eigenen Garten.
    »Die hab ich heute Morgen extra für euch gesammelt«, sagt mein Vater, ohne den Blick von seiner Zeitung zu heben, »damit wir gesund bleiben und nicht schon am Morgen eine Portion Gift zu uns nehmen.«
    Ich höre, wie er die Seite umschlägt, höre Benedikt zustimmend grunzen und meine Mutter über alle Giftstoffe der Welt sorgenvoll seufzen. Ich weiß, dass ich mich auch irgendwie äußern sollte, ich weiß, dass sie Recht haben, dass die gezüchteten Tomaten genmanipuliert und die eingeflogenen Erdbeeren gespritzt sind, und ich weiß, dass ich dankbar sein sollte, heute hier die gesunden Johannisbeeren aus unserem eigenen Garten essen zu dürfen, ich weiß, ich sollte froh und dankbar sein, aber ich kann es einfach nicht mehr.
    Denn obwohl ich das Müsli sehr lecker finde, ist mir auf einmal danach, es auf der Toilette wieder auszukotzen. Es liegt an der Art, wie mein Vater sich jetzt Benedikt zuwendet und ihn nach den Fortschritten seines hochgelobten Umweltprojekts und der für morgen geplanten Demo fragt, es liegt an der Art, wie meine Mutter ihnen zuhört, sie hat dabei den gleichen bewundernden Blick wie Conny, wenn sie in Bennes Nähe ist, es liegt an Bennes Grinsen, an meinem Wunsch, mir Kopfhörer aufzusetzen, um nichts mehr mitbekommen zu müssen, es liegt an meiner Angst, etwas zu sagen, um nicht wieder in die Schusslinie zu geraten, es liegt an Bennes tollen Taten und der Tatsache, dass ich das Gefühl habe, nicht mehr am Tisch zu sitzen.
    Während die drei immerzu von der Party, den erlesenen Speisen, den geladenen Gästen, dem hervorragenden Zeugnis, dem bewundernswerten Engagement und der großen Ehre reden, fühle ich mich gar nicht mehr anwesend. Und mein Bedürfnis, das gute und edle Körnermüsli mit den selbst gepflückten, ungespritzten Johannisbeeren aus unserem Garten, das ich undankbarerweise in mich hineingestopft habe, wieder von mir zu geben, wird immer stärker.
    Ich stehe auf und gehe zur Toilette. Ich übergebe mich nicht, ich kann es nicht. Ich liebe meine Eltern und unseren Naturgarten, und ich muss wirklich froh und dankbar sein, dass Papa auch mir das Müsli zubereitet hat, er hat es sicher mit Liebe gemacht, für mich, seine Tochter – doch seine Tochter hat es nicht verdient, denn die will es am liebsten auskotzen.
    Ich stecke mir den Finger in den Mund und beiße so fest darauf, wie ich eben kann. Dabei wünschte ich, ich könnte damit aufhören, ich wünschte, es gäbe mich nicht, ich wünschte, ich fiele ins Klo und zöge mich ab.
    Als ich zum Tisch zurückkehre, könnte man die Abdrücke meiner Zähne auf dem Zeigefinger sehen. Wenn man hinschauen würde, versteht sich.
    »Willst du etwa schon gehen?«, fragt mein Vater, nachdem ich aufgegessen habe.
    »Thomas, lass sie doch!«, ermahnt ihn meine Mutter, die offensichtlich gemerkt hat, wie ich mich in Erwartung eines Vorwurfs schon versteife.
    »Warum? Ich darf das doch fragen. Wir sehen uns ja nur noch zu den Mahlzeiten. Sonst ist sie ja ständig außer Haus. Was hast du denn am Wochenende vor? Wirst du mit zu der Demo gehen?«
    »Mal sehen«, murmele ich und denke an das Casting, das wenige Stunden vor der verflixten Demo stattfinden wird.
    »Wolltest du nicht ein Kleid mit deiner Mutter kaufen?«
    »Ach ja, stimmt.« Meine Stimme klingt nicht begeistert, das merke ich selbst. Aber mittlerweile weiß ich: Ich will nicht mehr Zeit mit ihnen verbringen als eben nötig. So ein

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