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Schmerzverliebt

Schmerzverliebt

Titel: Schmerzverliebt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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Ort strahlt heute Morgen wie verzaubert. Ich bleibe stehen. Eines der Pferde trabt heran und lehnt seinen Kopf über den Zaun. Es hat eine weiße Blässe auf der Stirn und bestimmt ein weiches Maul. Ich möchte zu ihm hinübergehen und es streicheln, trotzdem bleibe ich stehen und drifte mit meinen Gedanken ab. In meinem Kopf setzt sich auf einmal der Vorsatz fest, langsamen Schrittes über die Straßenkreuzung zu gehen, in der Mitte anzuhalten, die Arme auszubreiten, die Augen zu schließen und darauf zu warten, dass der nächste Lastwagen mich überfährt. Ich würde das Hupen des Fahrers hören, das Quietschen der Bremsen. Vielleicht würde auf der anderen Straßenseite jemand vorbeigehen und schreien. Ich bliebe stehen, bis die Wucht des Aufpralls meine Beine wegreißen würde. Ich flöge durch die Luft und schlüge irgendwo auf dem Asphalt auf. Über mir der blaue Himmel. Weiße Wolken darin wie Segelboote. Sebastian, der sagt: »Ich bin immer noch dein Freund.« In meinen Ohren das Dröhnen des Blutes und mein Lieblingssong, Romeo and Juliette , zu dem ich beim Casting tanzen wollte. Was gäbe es Schöneres? Und warum es nicht einfach tun? Wozu noch warten?
    »Nein!«
    Das Pferd am Zaun wiehert, als gäbe es mir Antwort. »Du hast Recht«, sage ich zu dem Tier, und meine Stimme klingt so, als würde ich gleich anfangen zu heulen. Dabei will ich das nicht. Ich will nicht wie der Philosoph Nietzsche einem Pferd um den Hals fallen und für verrückt erklärt werden. Ich zwinge mich dazu, auf das Tier zuzugehen, mich zu bücken, mit der einen Hand Gras abzurupfen und es ihm hinzuhalten. Das Pferd frisst aus meiner Hand, und ich sage mir, dass ich wenigstens in diesem Moment genau so bin, wie ein sechzehnjähriges Mädchen zu sein hat: pferdelieb und auf dem Weg zur Schule, mit Ringen an den Fingern, kurzem Rock und einem mittelmäßigen Pop-Song im Ohr.
    Doch noch als ich dann weitergehe, muss ich meine ganze Konzentration darauf richten, meine Schritte nicht plötzlich auf die Fahrbahn zu lenken. Zehn Minuten zu spät an der Schule angekommen, erschöpft, und auch geschwitzt, brauche ich noch einmal etliche Minuten, um mich im Mädchenwaschraum frisch zu machen, eine Zigarette zu rauchen und dann den Mut aufzubringen, den Klassenraum der 10a anzusteuern.
    Als ich klopfe, frage ich mich, welches Fach und welchen Lehrer wir wohl gerade haben. Ich grübele, aber es fällt mir nicht ein. Panik bricht in mir aus. Ich muss schon ganz schön neben mir stehen. Von drinnen ist nichts zu hören. Vielleicht machen sie Stillarbeit. Also rein. Ich öffne die Tür und erstarre. Der Raum ist leer. Da ich nicht weiß, was ich anderes tun soll, gehe ich hinein und lasse mich niedergeschlagen auf einen Stuhl fallen.
    »Hallo Pia, du treue Seele. Die einzige Schülerin, die auf ihre verspätete Lehrerin wartet. Das freut mich aber. Die Sekretärin hat euch bestimmt gesagt, dass ich im Stau stehe? Und du bist die Einzige, die gewartet hat.« Frau Wagner steht vor mir, ist lautlos aufgetaucht, als wäre sie aus dem grauen Linoleum aufgestiegen. »Sag mal, Kind, was ist denn mit dir los? Fühlst du dich nicht wohl? Du bist ja ganz blass, und geweint hast du auch.«
    »Nein, ich … Entschuldigung, es geht mir gut.«
    »Bist du dir sicher?« Frau Wagner mustert mich durch ihre Brillengläser. Sie kann recht streng gucken, obwohl sie sich nett und flippig gibt, als einzige Lehrerin Tigerhosen trägt und mit einem alten, goldfarben gespritzten Porsche zur Schule fährt. Sie gehört nicht zu den Kollegen, die ständig mit meinem Vater zusammenglucken, aber ich mag sie.
    »Ja.« Ich nicke zur Bekräftigung, aber da ich selbst nicht dran glaube, tut es auch Frau Wagner nicht, das kann man ihr ansehen.
    »Pia, ich habe in letzter Zeit mehrmals das Gefühl gehabt, dass du Kummer hast und mit deinen Gedanken woanders bist. Nur so kann ich mir auch deine schlechten Leistungen erklären. Dass du nicht dumm bist, hast du ja in der letzten Arbeit wieder gezeigt.«
    Ich horche auf. »Wieso?«
    »Nun, ich habe noch nicht alle Hefte korrigiert, aber ich denke, es wird mal wieder eine Zensur, über die du dich freuen kannst.«
    »Oh, da bin ich aber froh. Ich hab mich nämlich auch angestrengt und sogar Nachhilfe genommen.«
    »Nachhilfe? Du? Hast du das denn nötig?«
    Ich schweige betreten.
    »Das war als Kompliment gemeint!«
    Sie lächelt mich aufmunternd an und ich nicke brav. »Das weiß ich schon. Es ist nur so, dass alle Leute immer glauben,

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