Schmerzverliebt
mich niemand darauf an. Es war allerdings nicht nur das Sichtbare, das mich faszinierte, sondern vor allem das irre Gefühl: Die Striemen prickelten bestimmt eine halbe Stunde lang. Mir kam es vor, als habe meine Haut Champagner getrunken. Ich lebte. Ich spürte jede Pore, jeden Nerv. Nie zuvor hatte ich mich mit meinem Körper so innig verbunden und gleichzeitig so frei von ihm gefühlt.
20 Sebastian
Er macht die Besorgungen schneller als gewöhnlich, findet weder Spaß noch Ruhe beim Aussuchen neuer Ausrüstungsteile.
Als er es ablehnt, noch einen Kaffee trinken zu gehen, bringt es sein Vater auf den Punkt. »Du willst wohl zu deiner Freundin, was?«
»Ja, ich glaube, sie braucht mich.«
»Aha?«
Eigentlich würde Sebastian jetzt gern seinem Vater erzählen, was Pia ihm gestern gesagt hat und was ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht. Wie kann sich jemand freiwillig mit einer Rasierklinge den Arm aufschneiden? Für ihn ist das völlig verrückt. Er kann sich nicht mal einen Mitesser ausdrücken, das empfindet er bereits als schmerzhaft und abartig. Aber sich gleich alles blutig zu ritzen – unvorstellbar. Sebastian muss diese Geschichte loswerden, aber er hat Pia auch versprochen, ihr Geheimnis für sich zu behalten.
»Ist irgendwas los, Sebastian? Du bist so grüblerisch.«
»Nein, nichts ist los.«
»Aha.«
»Sag doch nicht immer: aha.«
Sein Vater lacht und zuckt die Achseln. »Von mir aus.«
»Hey, weißt du was?« Sebastian hakt sich bei ihm ein, denn plötzlich ist die andere, schöne, selbstbewusste und erotische Pia vor seinem inneren Auge aufgetaucht und die Erinnerung an den heutigen Vormittag lässt seine Sorgen verschwinden. »Wir sollten eigentlich doch etwas trinken gehen. Es gibt nämlich etwas, auf das wir anstoßen können.«
»Aha.« Sein Vater lacht. »Du hast Recht, ich sag das wirklich dauernd. Aber was gibt es denn so Schönes?«
»Nun, ich bin erstens schon seit gestern Nachmittag keine Jungfrau mehr …«
»Ahaaaa?«
»Jahaaaa. Und zweitens haben wir heute … aber warte, das erzähle ich dir lieber in aller Ruhe …«
21 Pia
»Hallo! Na, kommst du voran?« Auf einmal steht Sebastian in der Tür der alten Schalterhalle. »Wir sind gerade wiedergekommen, und als ich das Dorffest sah, dachte ich, du hättest vielleicht Lust, einen Bummel über die Kirmes zu machen.«
Natürlich habe ich Lust. Rasch packe ich meine Sachen zusammen, mache mich mit etwas Sprudelwasser frisch. »Lädst du mich ein? Gehen wir Riesenrad fahren?«
»Meinetwegen, wenn du willst!«
»Oh ja!«
Wir machen uns auf in den Ort, essen Eis, bummeln an den Verkaufsständen entlang und steigen tatsächlich in eine Riesenradgondel.
»Darf ich bitten?«, sagt Sebastian höflich und zeigt auf die roten Sitzbänke.
»Danke, der Herr.«
Ich lasse mich nieder, schlage damenhaft die Beine übereinander, zünde mir eine Zigarette an. Er sorgt dafür, dass wir die Gondel für uns alleine haben, quatscht mit dem Karussellarbeiter und setzt sich mir dann gegenüber.
»Ich bin seit Jahren nicht mehr Riesenrad gefahren«, sagt er und beugt sich über das Geländer, als sich das Rad langsam zu drehen beginnt.
»Es ist bestimmt nicht so schön wie Segeln, oder?«
Sebastian wendet sich mir wieder zu, umfasst meine Knie. »Mit dir ist alles schöner, wahrscheinlich sogar Busfahren.«
Ich grinse, fühle mich geschmeichelt. Es ist ja auch herrlich: Die Gondel schwebt durch das Abendhimmelblau, von irgendwo erklingt Musik, zwei Möwen flattern an uns vorbei und unten auf dem Platz gehen langsam die bunten Lichter an.
»Pia, darf ich dich was fragen?«
»Klar!«
»Warum tust du das?« Er zeigt auf meine Arme und im gleichen Moment macht die Gondel einen Ruck und wir bleiben auf dem Scheitelpunkt der Kreisbahn stehen.
Ich öffne den Mund. Sebastian sieht mich an, noch immer die Arme auf meine Knie gestützt. Sein Gesichtsausdruck verrät, dass es ihm ernst ist.
»Das … das … ich weiß es nicht«, sage ich ängstlich, werfe die Zigarette fort und lehne mich auf der Bank so weit nach hinten wie nur eben möglich.
»Pia.«
»Was?« Meine Stimme klingt kläglich, ich habe mich zu weit über das Geländer gebeugt, und nun wird mir von der großen Höhe schwindelig, zudem ahne ich, dass Sebastian sich diesmal nicht so einfach wird abspeisen lassen, ja, ich habe plötzlich das Gefühl, in der Falle zu sitzen, naiv, wie ich bin, habe ich mich Sebastian aus einer Laune heraus ausgeliefert.
»Hat dir jemand was
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