Schmerzverliebt
die’s gibt.
Mit der Scherbe fahre ich so lange über die Innenseite meines Oberarms, bis ich die passende Stelle gefunden habe. Helle Haut, unschuldige hellblau schimmernde Adern, ein paar Leberflecke. Zu schön, um heil zu sein.
Schon reißt die Glasscherbe die erste tiefe Kluft in die unberührte Landschaft, rote Flüsse quellen aus meinem Inneren, ich drehe meinen Arm hin und her, lasse die Ströme parallel laufen, sich kreuzen und schließlich an den Seiten abtropfen. Die Spannung lässt nach, und es tut so gut, dass ich’s gleich noch mal haben muss. Es ist die Wut auf mich, die mich antreibt, es immer wieder zu tun.
»Pia!« Bevor ich realisieren kann, was los ist, stürzt Sebastian auf mich zu, packt meine Arme, schlägt mir die Scherbe aus der Hand, drückt mich auf den Boden. »Pia, hör auf, hör sofort auf damit!«
Ich schlage mit dem Hinterkopf auf dem Linoleum auf. Für einen kurzen Augenblick sehe ich Sterne. Dann merke ich, dass es kein Stern, sondern eine Fliege ist, die über mir ihre Bahnen zieht und schließlich auf meiner Stirn landet. Ihre Beinchen kitzeln, als sie über meine Haut krabbelt. Dann beginnt das Summen wieder, und noch etwas: Sebastian weint. Ich höre es, während der Schmerz nun ekelhaft heftig wird und das warme Blut auf den Boden tropft.
»Warum tust du das? Das ist abartig! Das ist krank, du darfst so was nicht machen!« Sebastian streift sein T-Shirt über den Kopf, reißt es in Streifen und wickelt mir diese wie Verbände um den Arm. »Ich war ziemlich gekränkt, das kannst du mir glauben! Aber, verdammt noch mal, deswegen muss man sich doch nicht gleich die Pulsadern aufschneiden!«
»Hab ich doch gar nicht.« Meine Stimme klingt kleinlaut und kommt wie von fern. »Ich hab nur ein bisschen geritzt.«
»Du hattest aber versprochen, es nicht mehr zu tun!«
»Und du hast mir gar nichts zu sagen!«
»Komm, wir müssen deine Wunden sofort versorgen lassen!« Er zieht mich auf die Füße.
»Was?« Ich sträube mich. »Wo willst du hin?«
»Ins Krankenhaus!«
»Das wüsste ich aber!«, schimpfe ich und reiße mich von ihm los. »Das sind zwei kleine Schnitte, die heilen von selbst. Glaubst du, ich zeig die jemandem? Was soll ich denen denn erzählen? Ein Tiger hat mich angefallen?«
»Du kannst daran verbluten!«, beharrt Sebastian.
»Ach, Quatsch. So schnell geht das nicht. Ich kenne mich da aus, ich mache das öfter.«
»Wirklich sehr beruhigend!« Sebastian schüttelt fassungslos den Kopf. »Pia … das geht so nicht weiter. Ich kann das nicht mitansehen … Bitte, lass uns zum Arzt gehen!«
»Nein! Der stellt mir nur dumme Fragen. Außerdem erfahren meine Eltern dann davon, entweder durch die Rechnung oder durch dummes Gequatsche, und eine größere Katastrophe kann ich mir nicht vorstellen!«
Sebastian nickt stumm. »Okay,« seufzt er matt, »deine Eltern werden nichts erfahren. Aber dann komm wenigstens mit zu mir, wir müssten Verbandszeug zu Hause haben.«
»Habt ihr bestimmt«, kontere ich, »wenn dein Vater gerade mal wieder einem Tier bei lebendigem Leib den Kopf aufsägt und sich dabei zufällig in den kleinen Finger schneidet, muss er sich ja …«
»Pia! Halt den Mund!« Sebastian schreit, sein Gesicht ist so rot, als würde er gleich platzen, und seine Hände sind zu Fäusten geballt. So habe ich ihn noch nie gesehen. Ich weiche zurück.
»Entschuldigung«, stammele ich, trete von einem Bein aufs andere. »Das … das wollte ich jetzt überhaupt nicht sagen, ich … ich wollte sagen, dass mir das zwar nicht egal ist, mit deinem Vater, ich dich aber trotzdem liebe und gar nicht weiß, wie ich die sechs Wochen Ferien aushalten soll, ohne dich.«
Sebastian schnauft, schüttelt den Kopf. »Hast du es deswegen getan? Weil ich die Ferien mit meinem Vater verbringe? Ich kann nicht deinetwegen hierbleiben, ich hab’s ihm versprochen und ich halte meine Versprechen.«
»Im Gegensatz zu mir, willst du sagen«, ergänze ich leise.
Schweigen.
Dann sagt er: »Ich verstehe ja, dass du nicht einfach so aufhören kannst. Das ist wahrscheinlich wie eine Sucht.«
»So ähnlich.«
»Ach, Pia …«, er streckt mir seine Hand hin und ich berühre sie mit meiner. »Uns wird schon was einfallen. Vielleicht kann ich dich ja zum Segeln mitnehmen, ich meine, falls du das überhaupt möchtest, zusammen mit meinem Vater und seinen Freunden auf einem Boot …«
Erstaunt öffne ich den Mund. Das kann nicht sein! Sebastian will mich mitnehmen? Nach allem, was ich
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