Schmerzverliebt
mit ihm zusammen bist: Er bestimmt alles und du darfst Ja und Amen sagen.«
»Den Eindruck hab ich aber nicht. Ich finde, er ist lieb und eher unsicher. Außerdem gehört er zu den wenigen Menschen, die sich heute noch für gute Zwecke einsetzen. Jedenfalls bin ich sehr glücklich, dass es zwischen uns gefunkt hat.«
Conny dreht eine Kordel ihres Rucksacks zwischen den Fingern, blickt zu Boden, schweigt.
»Ich bin auch glücklich mit Sebastian«, sage ich.
»Das freut mich. Echt.« Sie lässt die Kordel los und sieht mich an. »Benne hat sich in die Geschichte mit dem alten Bahnhof mittlerweile richtig reingesteigert. Sebastian sollte ihm am besten aus dem Weg gehen.« Sie drückt ihre Zigarette mit dem Schuh aus und steht auf. »Ach, und was ich dich noch fragen wollte … war das ein Witz oder habt ihr wirklich … vorhin hinter der Turnhalle, meine ich?«
Den Nachmittag verbringe ich im alten Bahnhof und probe wie besessen, doch immer wieder wandern meine Gedanken zu Sebastian, der heute mit seinem Vater in die Stadt gefahren ist, um letzte Besorgungen für den Segeltörn zu machen.
Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass er in wenigen Tagen für ganze sechs Wochen fort sein wird. Zwar sind dann Sommerferien: Ausschlafen, Freibad, Spaß und möglicherweise sogar Tanzen, aber welchen Sinn macht das alles, wenn Sebastian nicht da ist? Wenn er mich nicht vom Training abholt, so wie ich es mir in meinen Träumen gern vorstelle? Wenn er nicht da ist, mich zu beglückwünschen und zu bewundern, wenn er nicht hinter der Trennwand hervorguckt, wenn niemand mehr da ist, der sich für mich interessiert.
Auf einmal muss ich an die Situation denken, in der ich mich zum ersten Mal ganz bewußt verletzt habe. Bestimmt hatte ich es vorher auch schon ein paar Mal getan, aber an jenem Sonntag war es mehr als nur ein Reflex, es war eine Art Offenbarung. Papa half Benne bei seinem Projekt und werkelte mit ihm in der Gartenhütte, Mama lag auf dem Sofa und las und ich hatte einen Kuchen gebacken und ihnen serviert. Zwar hatten sie sich gefreut, aber Benne und Papa hatten die ganze Zeit weiter über das Projekt gesprochen und Mama hatte ihre Nase in den Roman gesteckt. Als ich den Tisch abräumte, rutschte mir die Kuchenplatte aus und zerbrach in der Küche in tausend Teile. Meine Familie kam sofort angelaufen. Papa und Benne schüttelten den Kopf und verschwanden wieder. Mama beklagte, dass die Platte noch von ihrer Oma gewesen sei und eine echte Antiquität. Dann ging auch sie, seufzend und niedergeschlagen. Ich fegte die Scherben auf, kam wie ein ängstlicher Hund angekrochen: »Mama, bist du sehr böse?«
Sie sah nicht von ihrem Buch auf. »Nein.«
»Bist du doch.«
Keine Antwort.
»Mama?« Ich setzte mich auf den Boden vor die Couch, lehnte meinen Kopf an ihre Schulter, grub mit den Fingern ein paar Rillen in den weichen Teppich. »Sag doch bitte was! Bitte!«
»Püppi, noch mal: Ich bin nicht sauer.« Mit einer Hand strich sie geistesabwesend durch mein Haar, während sie mit der anderen gleichzeitig versuchte, das Buch festzuhalten und eine Seite umzublättern. »Jeder kann mal was zerbrechen, und da ich davon ausgehe, dass du die Platte weder absichtlich fallen gelassen hast noch dass du versucht hast, zu viele Dinge auf einmal zu tragen, bin ich dir auch nicht böse. Bist du jetzt beruhigt?«
»Ja«, log ich. Ich war nicht beruhigt. Natürlich hatte ich, wie immer, versucht, so viel Geschirr wie möglich auf einmal zu tragen.
»Weißt du, ich bin nur traurig, weil ich eben an dieser Kuchenplatte besonders gehangen habe. Die hellgrüne Kuchenplatte hätte ruhig kaputtgehen können … aber lass uns jetzt davon aufhören, vorbei und vergessen.«
Sie strich mir noch einmal durchs Haar und wandte sich dann endgültig wieder ihrem Buch zu.
Zerknirscht stand ich auf und ging zu Papa, der mich keines Blickes würdigte. Als ich dennoch die Hütte betrat, schob Benne mich gleich wieder hinaus: »Püppi, du stehst mir im Licht, du störst hier, merkst du das nicht? Entweder du hilfst uns oder du bleibst draußen.« Mit diesen Worten machte er die Tür vor meiner Nase zu.
Da habe ich mir mit meinen Fingernägeln so heftig über die Oberschenkel gekratzt, dass auf diesen lange rote Streifen zu sehen waren. Mit diesen glühenden Linien auf den Beinen lief ich durch unseren Garten und die Siedlung, es war Sommer und ich trug ein Kleid, jeder hätte sie also sehen können, aber keiner hat sie gesehen, jedenfalls sprach
Weitere Kostenlose Bücher