Schmerzverliebt
angetan? Dein Bruder, deine Eltern oder …«
»Nein!« Ich schreie.
»Ich will dir doch helfen!«
»Dann lass mich gefälligst in Ruhe!« Ich rutsche in die Ecke der Gondel, Sebastian hinterher.
»Weich mir nicht aus, bitte! Ich muss doch irgendwas tun. Ich kann das nicht einfach hinnehmen und zusehen, wie du dich selbst verletzt. Warum hast du es mir denn überhaupt erzählt, wenn du nicht willst, dass ich dir helfe?«
Die Gondel schwankt, es geht abwärts.
»Weil ich so blöd war und dir vertraut habe!«, rufe ich und kann es nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen steigen.
Sebastian schüttelt den Kopf, greift nach meinen Händen.
»Pia, nicht weinen, ich hab doch …«
»Ich heule nicht«, fauche ich. »Das ist der Fahrtwind! Außerdem ist mir kotzübel. Wären wir bloß nicht in dieses dämliche Riesenrad gestiegen!«
Sebastian schweigt, jetzt rinnt mir eine Träne nach der anderen über die Wangen.
»Hey«, er legt den Arm um mich, die Gondel gleitet langsam nach unten. »Ich werde es niemandem erzählen, das habe ich versprochen. Es war nicht blöd, mir zu vertrauen, echt nicht.«
Ich schniefe und krame nach einem Taschentuch, finde keins und lasse mir von Sebastian eins in die Hand drücken.
»Kann ich dir ein Lebkuchenherz kaufen als kleine Entschuldigung?«
»Ja«, murmele ich, wische mir über die Augen und sehe den Leuten zu, die in den Gondeln vor uns gesessen haben und nun langsam aussteigen.
»Hör zu, Sebastian, ich will nicht darüber reden. Nur so viel: Meine Familie ist völlig okay. Keiner hat mir was getan. Es gibt eigentlich gar keinen Grund, warum ich’s mache, bis auf den, dass ich manchmal nicht anders kann. Ich kann mich eben nicht leiden, ich kann mich nicht ab, und da ist das völlig in Ordnung!«
»Aber warum kannst du dich nicht leiden, du bist doch nett und hübsch und …?«
»Hach! Ich seh das eben anders! Außerdem frag ich dich auch nicht, warum du ein paar Pfunde zu viel hast! Ich sag doch auch nicht: Sebastian, nimm mal ein bisschen ab; Sebastian, guck mal in den Spiegel; Sebastian, warum isst du so viel, wenn es dir schadet?«
»Da hast du auch wieder Recht.« Er macht ein niedergeschlagenes Gesicht, zwickt sich in den Bauch. »Ehrlich gesagt hab ich schon wieder Hunger.«
Widerwillig muss ich lächeln. Irgendwie versteht er es, mich immer wieder aufzumuntern. »Okay, dann gibt’s jetzt ein Lebkuchenherz!«, sage ich versöhnlich und gebe ihm einen Kuss, bevor wir aus der Gondel steigen.
Am Süßigkeitenstand gegenüber vom Riesenrad kauft Sebastian ein klassisches Lebkuchenherz mit der Zuckergussaufschrift »Ich liebe dich« und hängt es mir feierlich um den Hals. »Das ist nicht nur so hingesagt, das ist die Wahrheit«, flüstert er.
»Danke.« Ich lege meine Stirn gegen seine. »Darf ich dir denn auch ein Herz schenken?«
»Ja. Deins.«
»Das hast du doch schon.«
»Siehst du. Mehr möchte ich auch nicht.«
»Ich will dir aber was schenken!«, rufe ich und habe eine Idee. »Pass auf, du wolltest mich doch immer mal tanzen sehen! Ich hab mir eine neue Choreographie ausgedacht. Soll ich sie dir vortanzen? Auf dem Steg am See?«
Sebastian strahlt. »Ja … gerne!«
Wir laufen los, übermütig und viel schneller als nötig. Glücklicherweise ist niemand am Anglerteich, nur der kehlkopflose Rentner, der immer auf derselben Bank am Ufer sitzt und mit einer metallischen Stimme »Guten Tag« schnarrt. Der stört uns nicht. Ebenso wenig die Tatsache, dass der Himmel sich bezogen hat und eine gewittrige Schwüle in der Luft liegt.
»Also, die Musik musst du dir jetzt vorstellen. Ich kann auch ein bisschen singen, soll ich?«
»Ja, klar.« Sebastian setzt sich falschherum auf die Anglerbank, beugt sich über die Rückenlehne, legt den Kopf in die überkreuzten Arme. Hinter ihm gleiten zwei Schwäne über den Teich, Donner rumpelt in der Ferne und Gewittertierchen lassen sich auf meinen bloßen Armen nieder. Wie schön das alles ist!
Ich beginne zu singen und zu tanzen, und der kehlkopflose Rentner steht von der Bank auf, um mir zuzusehen, die Schwäne recken ihre weißen Hälse, mein Rock fliegt um meine Beine, der Rentner klatscht, meine Arme sind Flügel, Sebastian lacht begeistert, die Luft wirkt wie elektrisiert, und der Himmel schimmert über den Baumkronen lila, hier ist das Paradies: die Bäume voller Vogelstimmen, die Regentropfen frisch und warm, der jubelnde Rentner und Sebastian, meine Liebe.
Wir haben den alten Bahnhof noch nicht
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