Schmetterlingsjagd (German Edition)
Ausrutscher. Er hat versucht, mit dem Heroin aufzuhören, und es hat nicht geklappt. Trotzdem hat er es versucht. Er wollte wieder gesund werden. Er wollte leben. Ich fange an zu zittern, als ich eine der letzten Nachrichten öffne, die er ihr geschickt hat: Sapphire: Ich werde dich nie nicht lieben. Das wäre unmöglich. Ich glaube, ich werde dich für immer lieben.
Ganz unten steht eine SMS, eine einzelne, einige Jahre älter als die anderen, von einer Neun-drei-sieben-Nummer, kein Name. Ich öffne sie: Katherine – endlich habe ich die Nummer von deiner Freundin Erin bekommen. Ich hab immer wieder angerufen. Bitte gib uns Bescheid, ob es dir gutgeht. Alles Liebe, Mom.
Katherine. Sie hieß Katherine – das war ihr echter Name.
Es trifft mich wie ein Blitzschlag, und mein Körper fühlt sich an wie mit Eis gefüllt: Oren hat ihn nie erfahren. Ihr Jahrestag fand nie statt; er hat ihn verpasst; er war zu krank und lag in diesem kalten Lagerhaus mit den zerbrochenen Fensterscheiben. Er hat ihren echten Namen nie erfahren und sie nicht seinen. Und logischerweise konnte sie deshalb nicht wissen, nach wem sie in den Zeitungen suchen sollte, wie sie auf seine Beerdigung kommen oder sein Grab finden sollte. Für sie war er Bird, und sie war für ihn Sapphire. Die Wahrheit haben sie nie erfahren.
Zittrig, mit wehem Herzen scrolle ich willkürlich durch ihre anderen Textnachrichten: Hunderte und Aberhunderte von jemandem mit dem Namen «ANCHOR», Anker. Sie reichen mehrere Monate zurück.
17. Januar; 6.01: Hab gerade von dir geträumt .
17. Januar; 6.05: Du warst nackt. Ich war nackt .
17. Januar; 6.11: Jetzt bin ich scharf; alles deine Schuld .
Weiterscrollen, weiter in Richtung Gegenwart: 28. Februar; 3.18: Wo warst du heut Nacht ?
28. Februar; 3.21: Ich musste einfach deinen Körper sehen, aber er war nicht da .
28. Februar; 3.22: Weißt du eigentlich, was dein Arsch mit einem Mann macht ?
28. Februar; 6.05: Also … kann ich dich jemals außerhalb des Clubs treffen ?
Und dann noch weiter in Richtung Gegenwart: 9. März; 4.06: Du bist eine dreckige Schlampe .
9. März; 4.16: Nein, ich bin nicht betrunken. Weißt du eigentlich, was für ein Stück Dreck du bist ?
Mein Herz brennt beim Lesen – näher, näher heran. Ich höre, wie Dad unten herumkramt, dann knallt die Haustür zu. Ein Ziegelstein steckt in meinem Hals fest.
18. April; 1:07: 5000 Dollar. Eine Nacht .
18. April; 1.10: Soll ich’s verdoppeln ?
18. April; 1.14: 15000 für einmal Bl…
Draußen knirschen die Reifen auf dem Kies. Dads Auto fährt aus der Einfahrt.
Zitternd scrolle ich ganz zum Anfang, zu den letzten Nachrichten von ANCHOR, und halte die Luft an. Sie sind von vor drei Wochen: Ich zerreiß dich in der Luft. Du weißt, dass ich das kann.
Dieselbe Nacht, 5.29: Wenn du nicht tust, was ich sage, wirst du dafür bezahlen, Schlampe, das schwöre ich.
Und die letzte SMS, fünf Uhr einunddreißig am Morgen:
Schlampeschlampeschlampeschlampeschlampeschlampe. Immer wieder. Hoch und runter. Es füllt das ganze SMS-Fenster aus, ganz am Ende ist das Wort abgeschnitten; dort steht nur noch Sc… , und mein Magen schmerzt, weil ich an das Wort, an dasselbe Wort, denken muss, das mit Lippenstift auf Sapphires Leiche geschrieben worden war: Schlampe.
Wer auch immer Anchor ist, er ist auf jeden Fall von Sapphire besessen. Er hat sie bedrängt, bedroht und versucht, sie zu Sex mit ihm zu zwingen.
Hat er sie vielleicht auch getötet?
Sie strömt durch mich hindurch, heißblütig, diese Kraft, die sie mir geschickt hat, von dem Moment an, in dem ich den Schmetterling gefunden habe. Ich weiß, wer sie war. Ich weiß, dass sie geliebt wurde. Ich weiß, dass sie ebenfalls geliebt hat, auch wenn es sie zerrissen, schwindelig gemacht, in den Wahnsinn getrieben hat. Ich weiß, dass mein Bruder sie geliebt hat und dass Sapphire – Katherine – und ich uns gefunden haben – verbunden durch die Luft, durch unsere Zellen, durch eine Art Lücke in der Zeit, eine unbekannte Macht – aus einem bestimmten Grund.
Ich kann beweisen, dass ihr Leben einen Sinn hatte.
Meinen Bruder konnte ich nicht retten. Ich habe ihn wie Sand durch meine Finger rieseln, habe ihn von der Flut mitreißen lassen. Dies hier ist meine Chance – vielleicht die einzige, die ich je haben werde –, etwas zu tun. Etwas zu verändern. Etwas wieder zusammenzufügen, das Loch zu stopfen, das zerbrochene Ganze zu reparieren.
Das grobkörnige Foto erscheint
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